PKK und deutsche Justiz: Ganz im Sinne Erdogans

Seite 2: Das Urteil der belgischen Gerichte

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Eine derartige kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen "Überzeugung der Staatengemeinschaft" haben jedoch jetzt drei belgische Gerichte unternommen. Sie haben bis zum Obersten Gericht entschieden, dass es sich bei der PKK nicht um eine Terrororganisation handele, ihre Guerilla genauso dem humanitären Völkerrecht unterliege und das Kombattantenprivileg beanspruchen könne wie die regulären Truppen der türkischen Armee, die sie bekämpfen.

Die belgische Justiz hatte seit 2010, als die Polizei Razzien in den Büros des kurdischen Nationalkongresses und in den Produktionsstätten des kurdischen Fernsehens, die sich in Brüssel befinden, durchführte, Verfahren gegen kurdische Exilpolitikerinnen und Politiker und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der kurdischen Medienunternehmen, insgesamt 40 Personen, eingeleitet.

In einem Verfahren lautete der Vorwurf auf Teilnahme an Aktivitäten der verbotenen Organisation wie Finanzierung, Rekrutierung von Mitgliedern und Propaganda. In dem anderen Fall ging es darüber hinaus um die Versendung von elektronischer Kommunikationstechnik nach Nordirak, wohin sich große Teile der kurdischen Guerilla zurückgezogen hatte.

In einem ersten Prozess entschied das Gericht erster Instanz (Chambre du Conseil) am 3. November 2016, die 39 Beschuldigten und zwei Mediengesellschaften nicht dem Strafgericht (Tribunal Correctionnel) zu überweisen und den Fall einzustellen, da es sich bei der PKK um eine Partei in einem bewaffneten Konflikt handele und nicht um eine Terrororganisation. Dagegen legten sowohl die belgische Staatsanwaltschaft wie der Türkische Staat Berufung ein. Diese wies das Berufungsgericht (Indictment Chambers) am 14. September 2017 zurück und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung.

Gegen dieses Urteil legten Staatsanwaltschaft und türkischer Staat Revision begrenzt auf die Rechtsfragen ein. Der Kassationshof (Court de Cassation) verwarf die Entscheidung des Berufungsgerichts am 13. Februar 2018 und wies den Fall an das Gericht in anderer Besetzung zurück. Dieses bestätigte jedoch am 8. März 2019 die erste Entscheidung des Berufungsgerichts,12 wogegen Staatsanwaltschaft und türkischer Staat erneut Revision einlegten.

In seiner letzten und nun unangreifbaren Entscheidung verwarf der Kassationshof die Revision am 28. Januar 2020 und bestätigte diesmal die Entscheidung des Berufungsgerichts. In dem zweiten Fall, in dem es um die Versorgung der PKK in Irak mit elektronischer Technik ging, entschied der Kassationshof am gleichen Tag ebenfalls zugunsten des Beschuldigten. (Brüssel: PKK ist keine Terrororganisation mehr, sondern Kriegspartei)

Die entscheidenden Fragen lauten: Was ist eine terroristische Organisation und was ein terroristisches Delikt. Das belgische Strafgesetzbuch von 2003 hat beides definiert. Nach Art. 139 ist eine terroristische Organisation "ein auf längere Dauer angelegter organisatorischer Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um in Art. 137 erwähnte terroristische Straftaten zu begehen".

Nach Art. 137 ist eine Handlung terroristisch, wenn sie begangen wird, "um eine Bevölkerung ernsthaft einzuschüchtern, um öffentliche Behörden oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu Unterlassungen oder Handlungen zu zwingen oder um politische, verfassungsmäßige, wirtschaftliche oder soziale Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu vernichten."

Art. 141 bis wiederum lautet:

Der vorliegende Titel findet weder Anwendung auf Handlungen der Streitkräfte während eines bewaffneten Konflikts, wie sie im humanitären Völkerrecht definiert und durch dieses Völkerrecht geregelt sind, noch auf Handlungen der Streitkräfte eines Staates im Rahmen der Ausführung ihrer offiziellen Aufgaben, sofern sie durch andere Regeln des Völkerrechts geregelt sind."

Kassationshof: Konflikt erstreckt sich auf ganze Türkei

Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens war also der Charakter der PKK zu entscheiden.Das Berufungsgericht (Indictment Chamber) ging in seiner Entscheidung v. 8. März 2019, die durch die Entscheidung des Kassationshofs am 28. Januar 2020 rechtskräftig wurde, zunächst der Frage nach, ob der Konflikt überhaupt unter die Regelungen des Völkerrechts falle. Dies hatte die Staatsanwaltschaft bestritten, da dem Konflikt die notwendige Intensität fehle und der Organisationsgrad der PKK nicht die erforderliche Höhe als nichtstaatliche Partei habe.

Die Verteidigung konnte beide Behauptungen mit ausreichendem Beweismaterial aus den militärischen Angriffen der türkischen Armee auf kurdische Ortschaften in Ost-Anatolien (Nord-Kurdistan), wie es während eines Internationalen Tribunals der Völker in Paris im Frühjahr 2018 bereits der Öffentlichkeit präsentiert worden war, widerlegen. Das Gericht entschied somit, dass es sich bei dem Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK um einen nichtinternationalen Konflikt handele und die militärischen Aktivitäten der PKK-HPG "Aktivitäten von Streitkräften während eines bewaffneten Konfliktes" i. S. von Art. 141 Strafgesetzbuch seien.

Es prüfte dabei ausführlich und bestätigte den andauernden Charakter und die Intensität des Konflikts, die weit entwickelte Organisation der PKK und die Unterscheidbarkeit der HPG-Kämpfer, sowie die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf den Konflikt.

Die Staatsanwaltschaft allerdings bestritt weiter, dass die Aktivitäten der PKK in Belgien unter die Ausnahmevorschrift des Art. 141 fallen. Die PKK habe Angriffe gegen nicht-militärische Ziele in der Türkei geführt, gegen die Polizei, ökonomische Infrastruktur wie Dämme, Pipelines oder Eisenbahn. Die Unterorganisation TAK (Freiheitsfalken Kurdistan) habe sogar rein zivile Objekte angegriffen.

Die Verteidigung konnte allerdings nachweisen, dass spezifische Einheiten der Polizei, insbesondere die Jandarma, aktiv an den militärischen Auseinandersetzungen beteiligt waren, und die Führung der PKK ihre Angriffe strikt auf diese Einheiten beschränkte. Dämme, Pipelines und Eisenbahn seien als legitime strategische Ziele mit militärischer Bedeutung angegriffen worden. Schließlich würde die TAK nicht von der PKK kontrolliert, wie es z.B. der BGH annimmt, und es gäbe auch keine zuverlässigen Beweise dafür.

Sehr wahrscheinlich sei die TAK eine radikale Abspaltung der PKK, auf die die PKK keinen Einfluss mehr habe. Der Kassationshof stellte zunächst fest, dass sich der Konflikt auf das ganze Territorium der Türkei erstrecke und es genügend Gründe dafür gäbe, dass die Position der Verteidigung nicht unwahrscheinlich sei. Die Kampfhandlungen der PKK könnten nur dann terroristisch genannt werden, wenn sie in keinem Zusammenhang mit dem Konflikt ständen.

Gäbe es aber einen solchen Zusammenhang, dann müssten sie gegebenenfalls als Kriegsverbrechen aber nicht als Terrorhandlungen verfolgt werden. Das Gericht hebt also die Kampfhandlungen der PKK und ihrer Guerilla-Organisation HPG auf eine Stufe mit den Kampfhandlungen des türkischen Staates. Infolgedessen müssten sie auch völkerrechtlich gleichbehandelt werden.

PKK als "Partei in einem bewaffneten Konflikt"

Auf den Vorhalt der Staatsanwaltschaft, die PKK verübe aber terroristische Handlungen in Europe durch Brandstiftung mit Benzinbomben, räumte das Gericht ein, dass eine Organisation durchaus einen Doppelcharakter haben könne, Partei in einem bewaffneten Konflikt und als Terrororganisation. Das Gericht sah sich die französische und deutsche Rechtsprechung an, fand aber keine Beweise dafür, dass die PKK irgendeine Rolle bei der Organisierung, der Beauftragung oder Anstiftung der Handlungen in Belgien hatte, sodass sie nicht der Organisation angelastet werden könnten, sondern als Handlungen von Einzelpersonen zu gelten hätten.

Im Unterschied zur PKK können mit dieser Unterscheidung zB. die diversen Rebellengruppen des IS und Nachfolgeorganisationen von AlQaida als Partei in einem bewaffneten Konflikt und zugleich als Terrororganisation identifiziert werden, denen das Kombattantenprivileg nicht zukommt. Hier besteht insofern Übereinstimmung mit den deutschen Gerichten.

Während der Terrorcharakter der Rebellengruppen ihnen den Schutz des humanitären Völkerrechts nimmt, kann ihn die PKK als "Partei in einem bewaffneten Konflikt" für sich in gleicher Weise beanspruchen wie die türkischen Streitkräfte. Sollten einzelne Mitglieder sich terroristischer Aktivitäten schuldig machen, könnten sie durch das nationale Strafrecht verfolgt werden.

Die Organisation selbst würde dadurch aber noch nicht zur Terrororganisation werden.Wie bereits oben ausgeführt, genießen die Streitkräfte einer nichtstaatlichen Partei in einem nichtinternationalen Konflikt nach den beiden Zusatzprotokollen zu den Genfer Konventionen von 1977 allerdings nicht das sog. Kombattantenprivileg. Es wird dort nicht erwähnt. Ihre Kampfhandlunge sind nicht völkerrechtlich gerechtfertigt. Dennoch findet das Gericht in Belgien einen Weg, das Privileg auch auf die Kämpfer der nichtstaatlichen Streitkräfte zu erstrecken.

Es führt in den Urteilsgründen aus:

Im Gegensatz zu internationalen bewaffneten Konflikten genießen die Mitglieder der beteiligten Streitkräfte bei einem nicht-internationalen Konflikt nicht das sogenannte Kämpferprivileg, was impliziert, dass sie im Prinzip in ihrem eignen Nationalstaat aufgrund der dortigen Gesetzgebung vor Gericht gestellt werden können. Bei ihrer Gefangennahme werden sie außerdem nicht als Kriegsgefangene angesehen.Grund für diese Bestimmung ist der Wunsch, die Souveränität der Vertragsstaaten nicht zu untergraben. Diese Vorschrift ist ausdrücklich im gemeinsamen Artikel 3 der vier Genfer Konventionen von 1949sowie in Artikel 3 des Zweiten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen von 1977 (ZP II) festgehalten. Dabei wird bestimmt, dass Artikel 3 Genfer Konventionen keinen Einfluss auf den rechtlichen Status der Konfliktparteien hat.Dennoch urteilt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dass eine (internationale) strafrechtliche Verfolgung nicht mit der Idee, dass Konfliktparteien aufgrund des humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten Konflikt dieselben Rechte und Pflichten haben, zu vereinigen ist. Wenn für eine (nicht-staatliche) Partei das Risiko besteht, dass sie wegen des Verübens terroristischer Straftaten verfolgt wird, während die anderen Parteien (nationale Streitkräfte) Immunität genießen, solange sie sich nicht wegen Verstößen gegen das humanitärer Völkerrecht schuldig machen, ist die Gleichbehandlung der Kriegsparteien gravierend gestört. Hinzukommt, dass die Sorge besteht, dass wenn Handlungen nicht-staatlicher Gruppierungen als terroristische Straftaten qualifiziert werden - unabhängig davon, dass ihre Handlungen mit dem humanitären Völkerrecht konform sind - man kämpfende Gruppen entmutigt, sich an humanitäres Völkerrecht zu halten.In Übereinstimmung damit haben einige Staaten, Belgien eingeschlossen, ausdrückliche Bestimmungen in ihr nationales Strafrecht aufgenommen, in denen humanitäres Völkerrecht Vorrang hat."

Die dominante Erwägung des Berufungsgerichts war also die Gleichbehandlung beider Parteien im humanitären Völkerrecht. Wenn die nichtstaatlichen Streitkräfte im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt den gleichen Pflichten unterworfen werden wie die staatlichen Streitkräfte, so müssen sie auch die gleichen Rechte haben. Hier hat das humanitäre Völkerrecht Vorrang vor den Souveränitätsansprüchen der Staaten.

Das ist einleuchtend und bedeutet keine revolutionäre Weiterentwicklung des Völkerrechts. Denn die nichtstaatlichen Streitkräfte müssen eine Reihe formaler Bedingungen erfüllen, die sie eindeutig von den gerade im Nahen Osten verbreiteten Rebellen- und Terrorgruppen, Aufständischen und Söldnertruppen unterscheiden.