Pädagogik der Vaterlandsliebe

Seite 2: "Versöhnung mit der Realität" …

Piaget fasst also seine "Stadien der kognitiven Entwicklung"9 nicht nur als Formbestimmungen des Denkens, sondern legt in sie zugleich einen Inhalt. Im Formellen der Intelligenz findet sich jedoch keine inhaltliche Bestimmung oder Festlegung. Nicht einmal nach dem nächstliegenden Kriterium hin, dem der Richtigkeit, verbürgt das Denken per se ein solches Resultat. Die Intelligenz ist auch nicht einfach ein Instrument des Zurechtkommens mit der Welt. Wenn, dann hebt sie den Menschen aus dem Tierreich heraus, weil sie um ein Subjekt-Objekt-Verhältnis weiß und sich willentlich auf die Welt beziehen kann.

Schon gar nicht bildet der Verstand für sich moralische Sinngestalten aus. All das sieht Piaget etwas anders: "Die Intelligenz ist die Anpassung par excellence, das Gleichgewicht zwischen einer dauernden Assimilation der Dinge an die eigene Aktivität und der Akkommodation dieser assimilatorischen Schemata an die Objekte selbst."10 Das dialektische Hin und Her zwischen einer Umbildung der Umwelt durch den Menschen und einer Anpassung des Menschen an sie könnte man am Beispiel von Deichbauten oder Iglus noch durchgehen lassen.

Die Behauptung eines unerfindlichen "Gleichgewichts der Anpassung" braucht man aber nicht mitzumachen - ebenso wenig wie die seltsame Überhöhung der Kindheit als "biologisch nützliche Stufe", die wir angeblich besteigen müssen, um erwachsen werden zu können. Während Piagets "Gleichgewicht" nur ein leeres biologisches Prinzip ausdrückt, kommt seine Kindheit gleich zweimal daher: einmal, wie sie gesellschaftlich geht und steht, und noch einmal als Entwicklungshilfe der Natur. In den Etappen vom "Egozentrismus des kleinkindlichen Denkens" zum "Egozentrismus der Adoleszenz" und ihrer Überwindung "erfolgt die zunehmende Anpassung an die physische und soziale Umgebung".

So kommt es bei Piaget tatsächlich zu einer "Versöhnung des formalen Denkens mit der Realität"11, was ein Unding ist. Denn wenn das Denken der Heranwachsenden zur Akzeptanz der gegebenen Verhältnisse führt, geht das nicht aus seinem heranreifenden Formalismus hervor, sondern allemal aus dem Inhalt der von andern übernommenen oder selbst gebildeten Urteile. (Dazu mehr im fünften Teil.)

… "zuletzt automatisch" …

Piagets Theorie der "Stadien" ist bei Teilen der Fachwelt auf die Kritik gestoßen, zu schematisch zu sein. Dabei ist der Schematismus eine geeignete Hilfsvorstellung für die eben besprochene "Äquilibration", also den Prozess der Anpassung. In diesem wächst den Menschenkindern laut Piaget auch ein moralischer Wille an: "Achtung ist der Beginn der ersten moralischen Gefühle. Die erste Moral des Kindes ist jene des Gehorsams, und das erste Kriterium des Guten ist lange Zeit der Wille der Eltern."12 In der Folgsamkeit des Kleinkindes ohne weitere Begründung den Anfang der Moral zu setzen, ist zwar ziemlich kühn, da dieses Gehorchen ganz mit dem kindlichen Interesse zusammenfällt, dem nur die Mittel und das Tun der Eltern zu Gebote stehen.

Moralität unterstellt jedoch ein Sollen, also eine Differenz zum Interesse. Aber so zur Welt gebracht, geht es mit der Moral munter voran. Die "heteronome Moral der Kleinkinder" wird durch die "der Kooperation" überwunden - schon wieder ein "System von Werten"13, ohne welches Kinder nicht einmal zusammen Ball spielen könnten. "Zwischen sieben und zwölf Jahren"14 kommt dann "der Wille" ins Spiel. "Er ist eine ziemlich spät auftretende Funktion"15, die nicht früher loslegen kann, weil sie erst für ihren moralischen Spezialauftrag heranreifen muss. Piagets Wille ist nämlich "zu einer besseren Eingliederung des Ich und zu einer wirkungsvollen Beherrschung des Gefühlslebens"16 berufen. "Der Willensakt liegt darin, nicht der untergeordneten und starken Neigung zu gehorchen, sondern die übergeordnete und schwache Tendenz zu unterstützen."17 Wie der Wille diese Unterscheidung hinkriegt, gilt selbst Piaget als "unerklärlich", aber entscheidend ist ja, was hinten herauskommt - eben die "Versöhnung mit der Realität", die Piaget so zusammenfasst18:

Die echte Anpassung an die Gesellschaft erfolgt zuletzt automatisch, sobald der Jugendliche vom Reformator zum Realisator wird. So wie die Erfahrung das formale Denken mit der Realität in Einklang bringt, so heilt die effektive und konstante Arbeit (…) von allen Träumereien. (…) Wenn schon die Schularbeit nicht immer ausreicht, die berufliche Arbeit stellt, sobald die letzten Anpassungskrisen überwunden sind, das Gleichgewicht mit Sicherheit wieder her und kennzeichnet derart den endgültigen Eintritt ins Erwachsenenalter.

Damit ist Piaget bei einer erstaunlichen wissenschaftlichen Leistung angekommen. Er hat "begründet", dass die Sachzwänge der Schule und vor allem die des Erwerbslebens - Besonderheiten einer Wirtschaftsweise, die auf der Konkurrenz um Geld beruht - einen "automatischen" Reifeprozess, eine quasi-natürliche "Selbstregulation" abschließen. Piagets Erwachsenwerden vollendet sich ausgerechnet im Staats- und Wirtschaftsbürger, und die kapitalistische Nation wird zum Habitat der Gattung Mensch.

… "speziell bei Insekten"

Eine deutsche Entwicklungspsychologin19, auf die Piaget Bezug nimmt, teilt die anthropologische Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse in folgender Weise und verankert sie auch noch im Tierleben:

Der Beruf ist eine Notwendigkeit und Forderung, mit der das Leben an den in der Gemeinschaft aufwachsenden Menschen herantritt.

In der marktwirtschaftlichen Erwerbsarbeit klopft also "das Leben" schlechthin an die Tür - und zwar unerbittlich:

Dem, der sich nicht nützlich macht, der nicht (…) anderen einen Dienst erweist, dem verweigern früher oder später diese anderen die Mittel zur Erhaltung.

Diese ominösen "anderen", die von der Autorin immerhin als welche bestimmt werden, die nur "verwertbare Leistung" entgelten, handeln dabei trotzdem im Interesse eines "Kollektivs": "Offenbar ist also die Leistung, d.h. verwertbare, nutzbringende, irgendwie produktive Betätigung des Einzelnen in irgendeinem Grade einkalkuliert im Bestand eines Kollektivs." "Irgendwie" jedenfalls - wie es auch die Fauna enthüllt: "Man sieht dieses Prinzip der unter die Glieder eines Kollektivs aufgeteilten Funktionen noch deutlicher in Tierstaaten, speziell bei Insekten." In dieser Hinsicht ist die kapitalistische Nation "offenbar" so natürlich wie ein Ameisenhaufen.20

Vaterland für jeden

Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass ein Ostberliner Autorenkollektiv21 die "Erziehung zu Heimat- und Vaterlandsliebe" seinerzeit zwar etwas anders sah:

Unsere Auffassung von Heimat hat nichts zu tun mit einem unbestimmten Gefühl, (...) nichts mit nationalistischen Überhöhungen.

Die Autoren waren sich sicher: "Heimat entsteht nicht erst im Sozialismus, aber im Sozialismus nimmt sie eine andere geschichtliche Dimension an." Und so hielten sie exklusiv in der DDR "erstmals in der deutschen Geschichte die Voraussetzungen (für) gegeben, dass jeder Bürger den Staat als sein Vaterland begreifen, in ihm heimisch werden kann". Das soll hier nicht weiter erörtert werden. Wenigstens hatten die Autoren nicht dauernd "die Kraft der Selbstsucht und das Interesse am eigenen Vorteil" (Brezinka s.o.) im Verdacht, die Nation zu gefährden. Weil ihnen aber ebenfalls an der Liebe zu derselben gelegen war, die ihnen nun als echter Kitt zwischen Staat und Volk erschien, schrieben sie stellenweise die gleichen "Überhöhungen" auf wie die Kollegen West: "Die Heimat vergegenständlicht die Geschichte, das Erbe und die Tradition, sie ist Resultat eines historischen Prozesses, und sie ist die erlebbare Gegenwart, sie verweist auf die Zukunft" und weit darüber hinaus.

Lesen Sie im vierten Teil, was Nationalismus ist und wie er geht.