Pakistan: Wann putscht die Armee?

Befeuert von einer schweren Wirtschaftskrise setzen Imran Khan und die Sharif-Familie mit einem reinen Machtkampf die Zukunft von 245 Millionen Menschen aufs Spiel.

Seit Imran Khan am 10. April 2022 von einer von Shehbaz Sharif angeführten Koalition per Misstrauensvotum gestürzt wurde, herrscht in Pakistan Ausnahmezustand. Die Wirtschaftskrise verschärft sich, die Schlagzahl der Ereignisse ist fast zu hoch, um noch verfolgt zu werden.

Mehr und mehr staatliche Institutionen werden in den Machtkampf, in dem es um keine politischen Inhalte geht, hineingezogen, zuletzt das Oberste Gericht des Landes, der Supreme Court. Die umstrittenste Frage ist nun, wann und wie auf nationaler Ebene und in den Provinzen Punjab und Khyber-Pakhtunkhwa (KPK) gewählt werden soll.

Da der politische Prozess de facto blockiert ist, bleibt es dem Supreme Court überlassen, einen Ausweg aus der völlig verfahrenen Situation zu finden. Das Gericht tut sich schwer, auch weil, wie in so vielen anderen Fällen, seine Kompetenzen über Jahrzehnte nie konkret und zweifelsfrei definiert wurden. Zwischen den Richtern herrscht, was wenig überrascht, Uneinigkeit aufgrund geteilter politischer Loyalitäten.

Wie wird sich das Militär verhalten?

Es könnte somit zu allen bestehenden Krisen zusätzlich zu einer Verfassungskrise kommen. Die spannende Frage ist, wie sich die wahre Macht im Lande, das Militär, verhalten wird – vor allem auch, weil das aktuelle politische Chaos an die Situation 1977 erinnert, als sich das Militär unter General Zia-ul Haq gegen Premierminister Zulfiqar Bhutto an die Macht putschte.

Tragisch ist, dass diese Verwicklungen wenig bis nichts mit den Lebensumständen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu tun haben. Pakistan, mit 245 Millionen Einwohnern das fünftgrößte Land der Welt, bleibt konstant auf der abschüssigen Bahn, der Neigungsgrad wird steiler. Keine der involvierten Parteien hat Konzepte oder auch nur die leiseste Ahnung, wie dieser Trend umgekehrt werden könnte.

Imran Khan, Pakistan Tehreek-e Insaf (PTI, Pakistan Gerechtigkeitsbewegung)

Als der frühere Cricket-Star mit nicht unerheblicher Unterstützung der Armee am 18. August 2018 das Amt des Premierministers antrat, versprach er seinem Volk eine Regierung wie unter dem Propheten Mohammed, dem Gründer von Medina, dem ersten Staat der Muslime.

Solche Versprechungen wären unter weit günstigeren Umständen niemals einzuhalten gewesen, doch mangelt es Khan auf keinen Fall an Selbstüberzeugung und Sendungsbewusstsein. Das genügte jedoch nicht, um die fundamentalen strukturellen Probleme in Angriff zu nehmen. Zu nur halbherzigen Lösungsversuchen kam eine von den Vorgängern übernommene schwelende Wirtschaftskrise, die durch zwei Jahre Corona verschärft wurde.

Nach nur drei Jahren und neun Monaten im Amt wurde Khan der erste Premierminister des Landes, der seinen Posten durch ein Misstrauensvotum verlor. Von den vollmundigen Ankündigungen wurde keine realisiert, doch das hinderte Khan nicht daran, sich als Opfer von Intrigen zu sehen und sich als Märtyrer zu stilisieren.

Seit seiner Enthebung ist Khan permanent im Straßenkampfmodus, selbst ein Attentat konnte ihn nur wenige Tage bremsen. Mit allen Mitteln will er zurück an die Macht und porträtiert seine Kampagne als einen Kampf von Gut gegen Böse. Dabei scheut er auch vor der Verbreitung absurdester Verschwörungstheorien nicht zurück.

Neue Konzepte hat er weiterhin keine zu bieten, alles wird auf die Zeit nach dem "kommenden Sieg" verschoben. Dafür stehen die Chancen nicht schlecht: Die Wirtschaftskrise, die ihn sein Amt kostete, ist nun sein bester Verbündeter. Bei Nachwahlen im Juli 2022 in Punjab, im Herzland der Konkurrenten von der PML-L, gewann seine Partei, die PTI (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit), 15 von 20 Mandaten.

Shehbaz, Maryam und Nawaz Sharif, Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N)

Während man Imran Khan als Populisten bezeichnen kann, den sein Saubermann-Image bei Teilen der urbanen Mittelklasse einmal zum Hoffnungsträger machte, repräsentiert die Industriellenfamilie Sharif aus Lahore die alte Wirtschaftselite. Nawaz, dreifacher Premier, wurde 2018 vom Supreme Court lebenslang von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen.

Ein Jahr später reiste er, noch auf Haftbewährung, nach London, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Seitdem zieht er von dort die Fäden im Hintergrund. Seine Tochter Maryam ist seit Beginn des Jahres Senior Vice President der PML (Pakistan Muslim League) und macht sich bereit, das politische Erbe ihres Vaters zu übernehmen.

Bis es soweit ist, spielt die wichtigste Rolle ihr Onkel Shehbaz, der jüngere Bruder von Nawaz. Shehbaz ist im Gegensatz zu seinem Bruder und seiner Nichte bisher mit dem Gesetz nur mäßig in Konflikt gekommen. Seit der Disqualifikation seines Bruders 2018 führt er die PML-N (Pakistan Muslim League (N)).

Seine Fähigkeiten als Geschäftsmann helfen Premierminister Shehbaz Sharif wenig, die Wirtschaftskrise seines Landes in den Griff zu bekommen. Im Gegenteil, seit der Machtübernahme vor einem Jahr haben sich alle Indikatoren verschlechtert, was nicht seinem Amtsvorgänger Imran Khan angelastet wird, sondern pauschal ihm und seiner Regierungskoalition PDM (Pakistan Democratic Movement).

Die ununterbrochene Agitation Khans lässt ihm auch wenig Gelegenheit, sich um die wahren Probleme zu kümmern. Um sich der Bedrängung durch Khan zu erwehren, greifen er und sein Innenminister Rana Sanaullah (ebenfalls PML-N) zu fast allen legalen und illegalen Mitteln.

Der Toshakhana Fall

Offensichtlich wird die einseitige Verfolgung Khans im Skandal um das Toshakhana (persisch: Schatzkammer). An jene Behörde müssen Amtsträger Geschenke von Repräsentanten anderer Staaten übergeben. Und können die gleichen Geschenke – ganz legal – für einen Bruchteil ihres Wertes vom selben Amt zurückkaufen.

Abgeordnete der PDM zeigten Khan drei Monate nach seiner Amtsenthebung bei der Wahlkommission an und warfen ihm vor, mehrere erhaltene Luxusarmbanduhren beim Toshakhana nicht deklariert und direkt weiterverkauft zu haben.

Zweifellos ein strafbares Verhalten, aber kein schwerwiegendes, wenn man die Summen, um die es sonst bei der hiesigen Korruption geht, in Betracht zieht. Und beabsichtigt war, Khan für fünf Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter zu disqualifizieren.

Als das Toshakhana vor wenigen Wochen eine Liste veröffentlichte, aus welcher ersichtlich wurde, wer alles seit 2002 Geschenke erhalten und für was für kümmerliche Summen erstanden hatte, war der Aufschrei groß. Größter Profiteur war Asif Ali Zardari, Chef der PPP (Pakistan People's Party) und wichtigster Koalitionspartner Shehbaz Sharifs. Zardari war von 2008 bis 2013 Präsident gewesen und hatte sich in dieser Zeit unter anderem eine gepanzerte Luxuslimousine zurückgekauft (ebenso Nawaz Sharif).

Nicht nur PTI Anhänger fragten, auf welcher Basis Khan aufgrund von Toshakhana ein Strick gedreht werden sollte, nicht aber Mitgliedern der regierenden PDM. Für Khan wurde es ein willkommener Anlass, sich zum verfolgten Verfechter von Recht und Ordnung zu stilisieren, den eine Bande von Dieben von seinem rechtmäßigen Posten fernhalten wolle.

Mitte März brach in Lahore Chaos aus, als die Polizei versuchte, Khan zu einer Gerichtsvorladung im Toshakhana Fall abzuholen und PTI Anhänger sie nicht zu dessen Residenz durchließen.

Nach mehrtägigen Straßenschlachten, bei denen Gerüchten zufolge Teile der Polizei zur Seite der PTI überliefen, gab die Staatsmacht auf. Das Gleiche wiederholte sich wenige Tage später, als Khan vor Gericht in Islamabad erscheinen sollte. Davor rief er seine Anhänger dazu auf, den Kampf fortzusetzen, sollte er das Gerichtsgebäude nicht mehr verlassen.

Wie Khan wurden viele Funktionsträger und einfache Mitglieder der PTI einseitig verfolgt, verhaftet, eingesperrt und sogar getötet. Die staatliche Mediensaufsichtsbehörde PEMRA versuchte gar, die Verbreitung von Imran Khan Videos auf Sozialen Medien unter Strafe zu stellen.

Innenminister Sanaullah dachte laut darüber nach, die PTI zur extremistischen Organisation zu erklären und dadurch zu verbieten.