Palästina und die deutsche Schuld

Seite 2: Was geklärt werden muss: Kenntnislose Medienberichte, Intifada und Gewalt

Wenn die junge Aktivistin in ihrem Redebeitrag erklärt: "Wir sind die erste Intifada, wir sind die zweite Intifada und wir werden die dritte Intifada sein", müsste sie gefragt und geklärt werden, welche Form diese dritte Intifada ihrer Meinung nach annehmen soll.

Denn die erste Intifada folgte mit Generalstreik und zivilem Ungehorsam der Logik des "non-violent protest", auch wenn palästinensische Jugendliche Steine auf Soldaten warfen.

Die zweite Intifada allerdings trug mit Messerangriffen und Selbstmordanschlägen ein terroristisches Gesicht. Ein starkes Argument für BDS als Boykottaktivismus ist ja, dass er sowohl mit dem 1970er-Jahre Terrorismus der Flugzeugentführungen, als auch mit der Logik der Selbstmordanschläge bricht. Die ominös beschworene "dritte Intifada" hat sich hier klar zu entscheiden.

Es hätte für Medien- und Pressevertreter auf dem Oranienplatz am 20. Mai also eine Menge zu recherchieren und interessiert nachzufragen gegeben, allein: Sie hatten anderes zu tun, nämlich Portraitfotos der Demonstrierenden zu schießen und später das ohnehin schon feststehende Urteil mit einigen, wenig beweiskräftigen Filmsequenzen zu untermalen.

Die Berichterstattung in den berlinbezogenen Medien wie Tagesspiegel und Berliner Zeitung waren von Verstellungen und Verdrehungen geprägt.

Die Berliner Zeitung behauptete am 22.5.: Antisemitismus in Kreuzberg: 100 Palästinenser-Anhänger stören jüdische Kundgebung. Unter der Titelzeile ist ein Bild zu sehen, das die Unterschrift trägt: "Polizisten führen pro-palästinensische Demonstranten ab".

Der jüdische Aktivist Yossi Bartal kommentierte auf Twitter: "Liebe @berlinerzeitung - Dieser Titel und dieser Untertitel sind lächerlich - mit dem Bild eines jüdischen Künstlers, der von der Polizei abgeführt wird, wirkt aber schon wie eine Satire!"

Tatsächlich zeigt das Bild den Künstler Adam Broomberg, der wenige Minuten davor von deutschen Polizisten äußerst brutal zu Boden gebracht wurde, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt wurde und auf dem mehrere Polizisten zwischenzeitlich knieten.

Bartal ergänzte auf Twitter: "Zumindest in einem Punkt stimmten die Warnungen vor pro-palästinensischen Proteste: Zwei Juden wurden nach Auflösung der Demo von einer Menge geschlagen und auf den Boden geworfen. Die Täter war aber die Polizei."

Völlig kenntnislos und entgegen den Fakten berichtet die Medien: "Trotz des Verbots einer geplanten palästinensischen Demonstration in Berlin ist es am Samstagnachmittag zu antisemitischen Übergriffen in Kreuzberg gekommen."

Damit arbeiten diese Medien deutschen politischen Vertretern zu, deren Urteil ohnehin schon feststeht und die eine klare politische Agenda verfolgen. Für Fragen des Antisemitismus gibt es mittlerweile in Deutschland Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung und der Städte und Kommunen.

In der Auswahl dieser Personen wird deutlich, dass Deutschland nicht nur ein Antisemitismus-Problem hat, sondern auch ein Antisemitismusbeauftragten-Problem.

Felix Klein, Beauftragter für den Bund, fiel schon des Öfteren mit falschen Beschuldigungen aus. Zuletzt war sogar ein ganzes Buch dem Mbembe-Skandal gewidmet, in dem der Antisemitismusbeauftragte auf Gerüchte hin dem kamerunschen Philosophen "Antisemitismus" unterstellte und seine Auftritte in Deutschland canceln wollte.

Berlin hat mit Samuel Salzborn einen Antisemitismusbeauftragten, der direkt dem "antideutschen Milieu" entstammt, einer ehemals linken Subszene von bedingungslosen Unterstützern Israels. Dass sich Salzborn wenig Mühe beim Differenzieren macht, ist bekannt, spätestens seit er der Partei Die Linke einen "israelbezogenen Antisemitismus" unterstellte.

Die Parole: "From the river to the Sea – Palestine will be free"

Tatsächlich wäre viel zu klären und zu diskutieren, beispielsweise, ob "From the river to the Sea – Palestine will be free", also die Parole, die auch die Polizei zum Anlass nahm, derart heftig in die friedliche Demonstration einzugreifen, antisemitisch ist, bzw. Juden hier oder im Nahen Osten in ihrer Existenz bedrohe.

Es gibt hierzulande Versuche, diese Parole der PFLP zuzuordnen, einer Organisation, die vom Verfassungsschutz unter "säkulare extremistische Palästinenser" gehandelt wird. In dieser Repressionslogik könnte der Slogan nach Paragraf 86 als "Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen" kriminalisiert werden.

International wird um die Interpretation des Slogans gerungen. Der palästinensisch-US-amerikanische Schriftsteller Yousef Munayyer und politischer Analyst aus Washington, D.C., USA, der eine US-Kampagne für die Rechte der Palästinenser ein Gesicht gab, bestreitet in der Zeitung Jewish Currents, dass die Parole antisemitisch oder antijüdisch sei.

Auch Maha Nassar, Assistenzprofessorin für Studien des Nahen Ostens an der Universität von Arizona verteidigt in der unabhängigen jüdischen Zeitung Forward Marc Lamont Hill, einen politischen Kommentator, der durch CNN gefeuert wurde, nachdem er öffentlich für "a free Palestine from the river to the sea" votierte.

Identitätspolitisch argumentierend, müsste auf jeden Fall festgehalten werden, dass ein Biodeutscher, dessen Vorfahren "Von der Maas bis an die Memel" krakelten, mindestens seine Beweggründe kritisch reflektieren müsste, wenn er sich diese Parole zu eigen macht.

Sie ist, wie vieles im Feld der "Israelkritik", kontext- und sprecherabhängig. Angesichts von Okkupation und einem israelischen Siedlerkolonialismus ohne klare Grenzen und mit expansiven Tendenzen ist die Parole wohl in erster Linie eine gegen die israelische Besatzung.

Wenn Palästinenser sie skandieren, machen sie auch deutlich, dass für sie "Palästina" mitsamt der ihr zugehörigen Gemeinschaft nicht resigativ auf das Territorium des Westjordanlands und des von der Hamas dominierten Gaza-Streifens geschrumpft ist.

Dass "Palästina" personifiziert ist und nicht konkrete Menschen befreit werden sollen, unterbietet Erkenntnisse des linken Internationalismus, der von solcher nationalen bis nationalistischen Befreiungsemphase – nicht nur in Deutschland – in langen Debatten und Lernprozessen Abstand genommen hat.

Objektiv problematisch und kritikwürdig ist die Parole, weil sie offen lässt, wo Israel geblieben ist und was mit den dort lebenden Juden in einem "freien Palästina" passieren soll. Schließlich gibt es islamistische Bewegungen, die ganz Palästina als islamischen Staat anstreben und tatsächlich den Juden in Palästina ihr Selbstbestimmungsrecht streitig machen wollen.

Für die Veranstalter auf dem O-Platz gilt letzteres gerade nicht. Sie und ihre Freund:innen und Genossen machen deutlich, dass es um eine universelle Befreiung gehen würde. Auch dem scheinheiligen und instrumentalisierenden Argument, die Parole bedrohe ebenfalls jüdisches Leben in Berlin, wird beispielsweise von dem Jewish Bund. Jüdischer antifaschistischer Bund widersprochen.

In einem Video, das auch die Vorfälle auf dem Oranienplatz richtigstellt, bekräftigen sie, dass der Slogan als legitimes Statement gegen Besatzung zu rezipieren sei. Als Frankreichs Rechte 1968 mit antisemitischen Ressentiments gegen Cohn-Bendit vorgehen wollte, war der Ruf "Wir sind alle deutsche Juden" die Solidarität bekräftigende Parole der rebellischen Jugend auf den Pariser Straßen.

Als am 20. Mai auf dem Oranienplatz in Berlin ein Teil der Demonstration von deutscher Polizei angegriffen wurde, war "From the Ocean ..." die sicherlich moralisch und realpolitisch weit fragwürdigere Chiffre und Bekundung, sich in seinem Anliegen nicht spalten zu lassen.