Palästinenser ohne Arafat

Die Suche nach einer neuen Führungsstruktur

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Jassir Arafat schwebt auf seinem Pariser Krankenbett weiterhin zwischen Leben und Tod. Die Lage in den von Israel besetzten Gebieten bleibt aber weiter ruhig. In Ramallah zieht es die Bewohner nur vereinzelt zum zerbombten Amtssitz ihres Präsidenten. Und auch in anderen Städten finden keine Demonstrationen statt. Palästinenser verfolgen die Nachrichtenlage vielmehr vor den Fernsehern. Man wartet ab. Kaum einer zweifelt noch daran, dass Arafat nur künstlich am Leben gehalten wird, bis eine Führungsstruktur gefunden ist.

Damit stehen die Palästinenser vor der größten Aufgabe der letzten Jahrzehnte. Bisher regelte der Präsident alles persönlich, jeden Scheck hat er selbst unterschrieben. Das System Arafat belohnte Loyalität mit Ämtern oder Geld und durchdrang weite Teile der Bevölkerung. Der heute 75-Jährige sah stets so wohlgenährt aus, weil er in den vielen Taschen seiner Uniform seine Buchführung aufbewahrte: Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als Zettelwirtschaft.

Wer lange arbeitslos war oder kein Geld für einen Krankenhausaufenthalt hatte, wurde beim Präsidenten vorstellig, der individuell half. Palästinenser sprechen von "über Hundert" Waisen, die Arafat adoptiert habe. Nicht nur deswegen wird Arafat heute von vielen respektvoll "Vater der Palästinenser" genannt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist von einer Arbeitsstelle in der PA abhängig. "Dass Arafat stirbt macht mich traurig", sagt Bassam Sbeidi, Student aus Ramallah. "Er hat sich sein Leben lang für uns aufgeopfert. Aber ich werfe ihm auch vor, dass er keine vernünftige Infrastruktur entwickelte. Wir, das einfache Volk, können jetzt nur passiv abwarten, was die da oben entscheiden."

Offiziell funktionieren die Strukturen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der Autonomiebehörde. Ein Fatah-Mitglied erklärte, dass der PLO-Vize Mahmud Abbas die internationalen Verantwortlichkeiten Arafats und den Sicherheitsbereich übernehme. Premier Ahmad Kurei wurde von dieser Dachorganisation fast aller palästinensischen Gruppen mit der Finanzaufsicht der PA betraut.

Aber selbst in der PA-nahen Zeitung Al-Hayat Al-Dschadida wird diese Normalität als "Illusion" bezeichnet. "Die Rechtslage ist völlig unklar", so das Editorial vom Donnerstag. "Und niemand aus dem PLO-Zentralkomitee übt Autorität über einen Offizier der Sicherheitsorgane aus." Viele PA-Kader gründeten ihre Macht auf ihr gutes Verhältnis zu Arafat. Dieses Basis bricht nun weg. Die Fatah-Oberen müssen jetzt die Reformforderungen ihrer bewaffneten Basis erfüllen.

Bürgerkrieg vermeiden

"Arafat hat die Macht monopolisiert", erklärt Ziad Abu Amr, unabhängiges Mitglied des Parlaments aus Gaza. "Außer ihm hat keiner das politische Gewicht, sich so zu verhalten." Abu Amr ist der Koordinator des Treffens aller hiesigen politischen Gruppen, die derzeit in Gaza tagen. Vertreter von Hamas, Islamischem Dschihad und den linken Bewegungen erklärten dort am Freitag, die "nationale Einheit" aufrecht erhalten zu wollen. Es müsse aber ein Gremium gebildet werden, in dem alle ein Mitspracherecht haben: "Wir wollen die Politiker in Ramallah daran erinnern, dass außer Arafats Fatah-Bewegung alle anderen Gruppen aus den Führungsverhandlungen ausgeklammert sind."

Diese Forderungen sind nicht neu, wurden aber von Arafat mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft stets übergangen. Die neue Führung kann sich das nicht erlauben. Deshalb ist Premier Kurei am Samstag zu Gesprächen in Gaza eingetroffen. "Wir fordern eine Vereinte Nationale Führung der Intifada", so Ismail Haniya von der Hamas. Bereits in der ersten Intifada (1987-93) leitete ein Zusammenschluss der größten Organisationen den Aufstand gemeinsam, noch ohne die Hamas. Die damals gewachsene lokale Führung wurde von Arafat nach seiner Rückkehr aus dem Exil aber beiseite gedrängt und von der Autonomiebehörde ersetzt.

Die palästinensischen Fraktionen haben sich mit den verschiedenen Polizeieinheiten (der PA) nun wenigstens auf einen Sicherheitsplan für den Gazastreifen im Falle eines israelischen Abzugs geeinigt", so ein Mitglied der Volksfront für die Befreiung Palästinas aus Gaza am Samstagabend. Mittelfristig müsse es nun aber um eine gerechte Verteilung der Macht gehen. Die für Dezember anberaumten Kommunalwahlen könnten die Grundlage dafür bieten, sofern der Termin nicht verschoben wird.

Israel kontrolliert

Die Zusammensetzung der neuen Führung interessiert jedoch nicht alle. "Hier und in vielen anderen Orten kontrolliert Israel alles. Unsere Probleme heißen Luftangriffe, Ausgangssperre und Häuserzerstörungen", so ein Bewohner Rafahs, einer Stadt im Süden des Gazastreifens, die bereits seit Jahren immer wieder unter israelischen Einmärschen leidet. "Von der Autonomiebehörde kriegen wir sowieso nichts mit."

Wie sich das Verhandlungsklima mit Israel entwickelt, wird sich noch zeigen müssen, vorausgesetzt, Ministerpräsident Ariel Scharon ist zu Gesprächen bereit (Strategie gesucht). Mahmud Abbas und Ahmad Kurei haben ihren Willen zum Treffen mit Scharon jedenfalls mehrfach bekundet. Allerdings werden sie unbeliebte Kompromisse nicht so einfach durchsetzen können wie Arafat.

Unterdessen wird über die Grabstelle des sterbenden Präsidenten diskutiert. Israels Premierminister Ariel Scharon hat eine Beisetzung in Ost-Jerusalem, wo andere bekannte Palästinenser begraben sind, ausgeschlossen. Nun wird von einer feierlichen Zeremonie in Paris gesprochen, an der wenigstens auch mit Israel verfeindete arabische Staats-Chefs teilnehmen könnten. Danach soll Jassir Arafat in Chan Junis im Gazastreifen neben dem Grab seiner Schwester die letzte Ruhestätte finden.