Strategie gesucht

Arafats Abschied von der Macht hat eine neue Realität im Nahostkonflikt geschaffen - Noch hat Israels Regierung keine Antwort darauf gefunden

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Der 75-jährige Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde fiel nach Angaben eines Arafat-Vertrauten in der Nacht zum Freitag ins Koma. Er befinde sich in einem Zustand zwischen "Leben und Tod". Schon am Donnerstag Nachmittag hatte es in ersten Berichten geheißen, Jasser Arafat sei hirntod. Das israelische Kabinett war darauf hin zu einer weiteren Krisensitzung zusammen getroffen, um nach einer Strategie für die Zeit nach dem Tod des Palästinenserpräsidenten zu suchen. Im Raum steht die Befürchtung, in den palästinensischen Gebieten könne ein Machtkampf ausbrechen und zu einer neuen Anschlagsserie in Israel führen. Die Regierung baut deshalb auf eine Politik von "Zuckerbrot und Peitsche" - die nicht überall Zustimmung findet.

Anhänger Arafats vor dem Krankenhaus in Paris

Eigentlich wollte er das Wochenende auf seiner Ranch außerhalb der Stadt verbringen. Doch am Donnerstag Nachmittag machte der palästinensische Präsident Jasser Arafat Israels naturliebenden Regierungschef Ariel Scharon einen Strich durch die Rechnung. Dem 75-jährigen Arafat gehe es zunehmend schlechter, meldeten die Medien. Und Scharon musste seine Pläne ändern und sich mit seinem ihm derzeit nicht sonderlich wohlgesonnenen Kabinett treffen.

Doch dicke Luft herrscht in den festungsartigen Mauern der Residenz des Premierministers nicht nur wegen des geplatzten Ausfluges. Es gilt, möglichst schnell, eine Antwort auf die Frage zu finden, die eigentlich schon seit langem im Raum steht, aber nie wirklich debattiert wurde: Was passiert, wenn der alternde Palästinenserpräsident stirbt?

Monatelang hat Scharon immer wieder betont, Arafat sei kein Gesprächspartner. Am Freitag kam auch er nicht umhin einzugestehen, dass allein schon die schwere Krankheit des Präsidenten eine neue Realität im Nahostkonflikt geschaffen hat: Die meiste Zeit seines Lebens war Arafat in Israels Machtzirkeln persona non grata. Jetzt gibt es auf der palästinensischen Seite nicht einmal mehr jemanden, vor dem man warnen kann. "Es ist eine Zeit der Unsicherheit", sagte er in einer Sitzungspause, um dann einmal mehr die Möglichkeit neuer Verhandlungen in der baldigen Zukunft in Aussicht zu stellen:

Wenn sich an der Spitze der palästinensischen Führung ein ansprechbarer Partner etabliert, sind wir bereit zu reden.

Zuckerbrot und, falls nötig, Peitsche - das scheint nach Ansicht vieler Beobachter die vorläufige Haltung der israelischen Regierung zu sein: Im Raum steht die Befürchtung, dass in den palästinensischen Gebieten ein Machtkampf ausbrechen und sich in einer neuen Anschlagsserie in Israel ausdrücken könnte. "Die Frage ist, ob die neue Garde effektiv gegen Terror vorgehen und verhindern kann, dass lokale Banden oder gar die Hamas die Macht in den Gebieten übernehmen werden", kommentiert die Zeitung Maariv.

Die Sicherheitsvorkehrungen wurden deshalb weiter verschärft, kurz nachdem bekannt wurde, dass sich Arafats Gesundheitszustand weiter verschlechtert hat. Außerdem ruft die Armee derzeit Reservisten in den aktiven Dienst zurück: "Mit der Aussicht auf Verhandlungen sollen die moderaten Kräfte in der palästinensischen Führung gestärkt werden", sagt der Politologe Ascher Mizrachi von der Universität Tel Aviv . "Scharon lässt aber keinen Zweifel daran, dass man auch eingreifen wird, sollte die Lage außer Kontrolle geraten."

Auch Zeew Schiff, Kommentator der Zeitung Haaretz teilt diese Ansicht, bezeichnet sie aber als "kurzsichtig" und mahnt zur Zurückhaltung:

Militärische Mittel sollten nur eingesetzt werden, wenn unmittelbare Gefahr für das Leben von Israelis droht, denn die derzeitige Situation birgt eine große Chance: Eine gesprächsbereite, moderate neue palästinensische Führung gibt Israel die Möglichkeit, den Trennungsplan in eine Übereinkunft mit der anderen Seite einzubinden.

Umdenken der israelischen Politik wird gefordert

Unorganisiert, geradezu chaotisch sei die Reaktion der Israelis, lautet dann auch das Urteil der israelischen Medien: "Die Regierung hatte Monate Zeit, um sich auf dieses Szenario vorzubereiten", hieß es am Freitag Mittag im israelischen Rundfunk. Und der Fernsehsender Kanal Zwei kommentierte bereits am Donnerstag in seinen Hauptnachrichten:

Statt eine Alternative zu Arafat aufzubauen, hat die Regierung das Militär ins Rennen geschickt, Infrastruktur zerstören lassen - die Folgen sind nun offensichtlich: Unsicherheit, die Gefahr von noch mehr Chaos und Blutvergießen. Wir brauchen ein politisches Umdenken und wir brauchen es jetzt - bevor es zu spät ist.

Wie dieses Umdenken aussehen könnte, legt Haaretz-Kommentator Schiff in der Samstagsausgabe der Zeitung dar: Internationale Polizeitruppen in den palästinensischen Gebieten bei äußerster Zurückhaltung des Militärs, die Aufnahme von Verhandlungen sobald die neue Führung feststeht und ein beschleunigter Abzug aus dem Gazastreifen:

Nichts darf undiskutiert bleiben, wenn die Sicherheit gewährleistet werden soll. In den vergangenen Jahren wurde zuviel Gewicht darauf gelegt, dass Arafat politisch nichts zu bieten hatte und dabei sein Wert als ein Symbol unterschätzt, dass es geschafft hat, die Menschen zu einen und Schlimmeres zu verhindern.

Doch die Regierung zeigt sich von alledem unbeeindruckt. Die Falken machen Druck, und Scharon scheint darauf aus zu sein, keinen allzu nachgiebigen Eindruck zu machen: "Wir dürfen nicht vergessen, dass er sich nach wie vor in einer schwierigen Lage befindet", sagt Politologe Mizrachi: "Der Trennungsplan hat dafür gesorgt, dass das Kabinett stark zerstritten ist, und der Premierminister wird alles tun, um die Spaltung im Moment nicht weiter zu vertiefen. Das bedeutet, dass die Regierung derzeit zu keinem Richtungswechsel fähig sein wird.

Doch ein Streit scheint bereits vorprogrammiert zu sein. Israels Mitte-Rechts-Regierung sperrt sich gegen eine Beerdigung Arafats in Jerusalem: "Dies ist die Stadt, in der jürdische Könige beerdigt sind, und nicht arabische Terroristen", sagte Justizminister Tommy Lapid am Freitag im Rundfunk. Doch für palästinensische Offizielle wie auch für Schimon Peres, Vorsitzender der Arbeiterpartei und Freund Arafats, ist dies ein Thema, an dem die Verhandlungsbereitschaft der Regierung gemessen werde:

Meiner Ansicht nach wird es der neuen palästinensischen Führung schwer fallen, mit einer Regierung zu verhandeln, die sich gegen den letzten Wunsch eines Menschen gestellt hat.