Paragraph.com

Das russische Informatikwunder

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1988, als Gorbatchovs Perestroika immer neue Liberalisierungsschübe in der Sovietgesellschaft freisetzte, gründeten die Brüder Pachikov in Moskau die Firma Paragraph. Heute hat die Firma 40 Mitarbeiter in den USA und 80 in Moskau, Zukunftsaussichten rosig. Doch ist es nicht allein die Tatsache, daß Paragraph erfolgreich ist, die verwundert, sondern daß Paragraph erfolgreich ist, obwohl das Unternehmen in vielen Dingen einen eigenen russischen Weg geht. Armin Medosch sprach mit George Pachikov, Vizepräsident, Chefentwickler und Mitbegründer der Firma.

Paragraph

1988, so erzählt George Pachikov, war das Leben für Informatiker in Russland nicht gerade einfach. Während die Lebenshaltungskosten im Zuge der Perestroika stiegen, blieben die Gehälter auf dem Niveau von Staatsbeamten eingefroren. Denn Staatsbeamten waren die meisten Informatiker, einen privaten Informatiksektor gab es noch nicht. In dieser Situation kam George und seinem Bruder Stephan die Freundschaft zum Schwachweltmeister Garry Kasparov zu gute. Gemeinsam gründeten sie Paragraph und eröffneten in firmenstrategischer Voraussicht von Beginn an einen Zweitsitz im Herzen von Silicon Valley. Sie machten sich den Umstand zu nutze, daß eine Menge unzufriedener Genies an der Akademie der Wissenschaften mehr oder weniger untätig ihr postdoktorales Dasein verbrachten. Entsprechend dem hohen Ausbildungsniveau gab man sich mit nichts geringerem zufrieden, als Software für paralleles Graphik-rendering auf Transputermaschinen zu entwickeln. Unter den Folgen der immer noch gültigen amerikanischen Ausfuhrbeschränkungen für Technologie leidend, war es nötig, die meiste Software von Grund auf selbst zu entwickeln und teilweise auch die Hardware selbst zu bauen.

1990 kam für Paragraph der Durchbruch. Esther Dyson veranstaltete in Budapest ein East-West High-Tech Forum, Teilnehmer war u.a. Mitch Kapor. Beide fingen sofort Feuer, als Paragraph seine Handschrifterkennungssoftware präsentierte. In kürzester Zeit wurde ein Vertrag über 10 Mill. Dollar mit Apple in die Wege geleitet. Die Handschrifterkennungssoftware wird nun für den Newton lizensiert. In der Folge gelang es Paragraph, weitere langfristige Entwicklungsaufträge von großen Partnern wie z.B. Mitsubishi, IBM, Corel, an Land zu ziehen. Die Kombination von mitten in Silicon Valley ansäßiger Marketingzentrale und in Moskau ansäßiger Entwicklerzentrale eröffnet einerseits den Zugang zum Markt andererseits den Zugang zu hochtalentierten Entwicklern.

Neben der Auftragsforschung für die Großindustrie entwickelte George sozusagen als sein persönliches "Baby" den "Virtual HomeSpace Builder" (VHSB). In dieses Projekt sind soziale Intentionen eingeflossen, die bei Paragraph von Beginn an eine Rolle spielten. So spendete Kasparov Ende der achtziger Jahre 50 Atari Computer für den Studentencomputerclub der Moskauer Universität. Dies war einer der ersten Orte, an denen Schüler und Studenten Gratiszugang zu Computertechnologie erhielten. Aus diesem heraus entwickelte sich auch der Moskauer Kindercomputerclub. Paragraph-Mitarbeiter übernahmen die Einweisung der ersten Moskauer Computerkids. Aus einem ähnlichen ideellen Background entstand der VHSB. Diese Software soll es ermöglichen, auch mit leistungsschwachen Prozessoren und bei großer Benutzerfreundlichkeit dreidimensionale Welten entstehen zu lassen. Spezielle russische Programmiertechniken machen es möglich, daß der Code zur Erzeugung von 3D Objekten oft nur ein Drittel dessen ausmacht, was eine westliche Software zur Erzeugung desselben Objekts benötigt. Für diesen Vorteil macht George den Unterschied zwischen russischem und amerikanischem Bildungssystem verantwortlich. In Russland stünde es nicht im Mittelpunkt, den Schülern Wissen zu vermitteln, sondern Methoden, wie sie sich Wissen aneignen können, so Pachikov. Auch sei bei den Paragraph-Mitarbeitern eine größere Wissensbreite gegeben, als bei amerikanischen Computerfirmen. Die verschiedensten wissenschaftlichen aber auch künstlerischen Spezifikationen seien im Paragraph-Team versammelt. Man könne kritisieren, daß viel von diesem breiten Wissen vielleicht nie vonnöten sein werde, aber es ist nicht auszuschließen, daß gerade die Breite des Wissens für manche Problemlösungen von großem Vorteil sei.

Der VHSB 1.0, auf CD ROM für 30 Dollar verkauft, erweist sich wirklich als ausgesprochen benutzerfreundlich. Die Benutzer können aus einer großen Palette vorgefertigter geometrischer Formen und Texturen wählen. Die Bestandteile lassen sich auf einfachste Art und Weise mit Drag und Drop zusammensetzen. Das ist intuitiv und ohne Auswendiglernen des Benutzerhandbuchs sehr schnell zu lernen. Als Zielgruppe wurde vor allem an Schüler gedacht, die so auf einfachste Art Repräsentationen ihrer Umwelt schaffen können. Doch man ist auf die vorgefertigten Formen nicht angewiesen, kann sich auch eigene Texturen und Objekte basteln. Ein großer Vorteil von VHSB ist, daß die Objekte nicht nur grafisch die Welt repräsentieren, sondern auch eine gewisse "Intelligenz" besitzen. Eine Hausmauer ist stabil, man kann nicht einfach durchgehen, eine Schublade läßt sich nur bis zu einem gewissen Punkt herausziehen, ein Fenster ist ein Fenster, etc..

Schon die Version 1.0 erlaubte es, die selbsterstellten 3D-Welten entweder im eigenen Viewer zu sehen oder sie als VRML-Datei abzuspeichern und ins Internet zu legen. Um sie im Internet auch ansehen zu können, war ein von Paragraph entwickeltes Netscape Plug-In nötig.

Doch mit VHSB 2.0 hat sich das geändert. Leider, möchte man fast sagen. Die 2.0 Version ist voll VRML 2.0 kompatibel. Das hat den Vorteil, daß kein spezielles Plug-In mehr erforderlich ist und die mit VHSB erzeugten Welten mit jedem VRML 2.0 kompatiblen Browser anzusehen sind. Da zu erwarten ist, daß VRML 2.0 sich als Standard schnell etabliert, ist damit die maximal mögliche Zahl an Usern garantiert. Der Nachteil allerdings ist, daß Paragraph, um das zu erreichen, eigene Methoden der 3D Modellierung aufgeben mußte und daß damit die "russische" Datenschlankheit des Programms Einbußen erlitt.

Dem scheinen vor allem marketingstrategische Überlegungen zu grunde zu liegen. Paragraph trat bei der diesjährigen Siggraph als energischer Promoter von VRML 2.0 auf. Neben dem VHSB gibt es nun auch den ISB, den Internet 3D Space Builder. Dieses neue Produkt, das sich noch in der Betatestphase befindet, ist auf einen Internetmassenmarkt gerichtet. Davon ausgehend, daß das dreidimensionale VRML gegenüber dem zweidimensionalen WWW immer mehr Bedeutung gewinnt, möchte man bei Paragraph unter den ersten sein, die ein billiges und effizientes Tool für die Erstellung von dreidimensionalen Internetanwendungen anbietet. Da ISB schon auf 486er Pcs, mit Sicherheit aber auf jedem Pentium einigermaßen schnell läuft, ist der potentielle Kundenkreis auf jeden Fall größer als der von vergleichbaren Produkten wie Cosmo, ein SGI Softwareprodukt, das voll auf SGI-Rechner ausgerichtet ist. Was aber nützt die hochauflösende Rendering-Leistung von SGI, werden sich Anwender fragen, wenn ich die Modelle ohnehin wieder in den miesen VRML Standard überführen muß. Denn darin sind sich Computergrafikexperten einig, vom grafischen Standpunkt ist VRML ohnehin ein Greuel. Der Vorteil liegt in der Vernetzung und der Interaktivität.

Ob die hochgesteckten Erwartungen von Paragraph aufgehen, zum führenden Unternehmen am Weltmarkt für VRML-Tools zu werden, bleibt abzuwarten. George Pachikov hat mit derartigen Überlegungen wenig am Hut. Er, der lieber in Moskau als in den USA lebt und arbeitet, hätte es lieber gesehen, die Strategie weniger auf den Web 3D Markt auszulegen und somit auch nicht die eigenen Programmiertechniken aufzugeben. Sein Argument ist, daß die Welt auch genausogut ein gutes, schnelles und einfach zu bedienendes, mit anderen Worten ein kinderleichtes 3D Zeichenprogramm benötigen könnte und daß Schulen und CD ROMŽs einen ebenfalls riesigen Markt für ein solches Produkt abgeben würde, vor allem wenn es weniger als 50 Mark kostet. Er engagiert sich jedenfalls weiter im Moskauer Kindercomputerclub und seine Hauptsorge bleibt die unsichere politische Lage in Russland. So berichtet er, daß vor den wahlen riesige Geldmengen in den Westen transferiert wurden, weil die Firmen - auch Staatsbetriebe und große banken und Versicherungen - einen Wahlsieg der Kommunisten und Nationalisten fürchteten. Der Entzug dieser Geldmengen vom russischen Markt hat zahlreiche kleine Softwarefirmen in den Konkurs getrieben, weil ihre Auftraggeber nicht bezahlten und sie nicht die Kapitaldecke hatten, die monatelange Durststrecke durchzustehen. Paragraph, deren Einnahmen überwiegend aus dem Westen kommen, hatte dieses Problem nicht und kann es sich u.a. leisten, dem russischen Staat ein VRML-Modell des Roten Platzes zum Geschenk zu machen.