Pazifisten-Bashing im Atomzeitalter

Betäuben Gesinnungsethik und Rheinmetall-Aktien das Gefahrenbewusstsein? Symbolbild: DeSa81 auf Pixabay (Public Domain)

Wer Putin das Schlimmste zutraut, muss in Deutschland nicht zwangsläufig die Gefahr eines Atomkrieges ernst nehmen

Friedensbewegten wird in diesen Tagen gerne vorgeworfen, jahrelang unterschätzt zu haben, wie destruktiv und bösartig der russische Präsident Wladimir Putin sowie dessen Minister und Militärs zu handeln bereit sind. Viele hielten Putin zumindest für außenpolitisch berechenbar und für weniger risikofreudig, als er sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zeigt.

Auch wenn sie ihn nicht als politischen Freund betrachteten, hatten sie zumindest "die Rationalität von Putin falsch eingeschätzt", wie es die Ko-Chefin der Linksfraktion im Bundestag, Amira Mohamed Ali formulierte.

Nun blenden aber nicht die bisher als "Putin-Versteher" Geschmähten, sondern gerade diejenigen, die Putin sonst das Schlimmste zutrauen und größtenteils immer schon zutrauten, die Gefahr eines Atomkrieges weitgehend aus.

Wer nicht auf den militärischen Sieg der Ukraine mit schweren Waffen aus Nato-Staaten setzt – und damit in Kauf nimmt, dass die Nato von russischer Seite als Kriegspartei wahrgenommen wird – gilt im Zweifel als kaltherzig, selbstgerecht und bequem, steht dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung angeblich gleichgültig gegenüber und gehört vielleicht sogar zur Fangemeinde Putins. "Lumpen-Pazifismus" unterstellte unlängst der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo Teilen der Friedensbewegung. Inzwischen ist klar: Deutschland wird liefern.

Der Bundestag stimmte an diesem Donnerstag mit großer Mehrheit für einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsparteien und der Unionsfraktion zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. CDU-Chef Friedrich Merz nutzte allerdings die Debatte, um Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch einmal dessen kurzfristiges "Zaudern" vorzuwerfen, nachdem Scholz vergangene Woche vor einer möglichen Eskalation zum Atomkrieg gewarnt hatte.

Für den Antrag mit dem Titel "Frieden und Freiheit in Europa verteidigen - Umfassende Unterstützung für die Ukraine" stimmten dann 586 von 693 teilnehmenden Abgeordneten. Dagegen votierten 100; sieben enthielten sich.

"Putin reagiert nicht"

Das Schimpfwort "Putin-Versteher" wirkt unterdessen veraltet, denn vielen, die heute noch glauben, die Denkweise des russischen Präsidenten zu verstehen, wurde nie Sympathie für Putin unterstellt. Marina Weisband meint zu wissen: "Wenn Putin Atomwaffen einsetzen wollte, dann hätte er das schon getan." Die Publizistin und Grünen-Politikerin erinnerte im Spiegel-Auslands-Podcast "Acht Milliarden" vergangene Woche daran, dass der Krieg in der Ukraine – mit prorussischen Milizen im Osten des Landes – schon seit acht Jahren läuft.

"Putin reagiert nicht", sagte Weisband mit Blick auf die aktuelle Situation. "Ich glaube, das ist das, was die deutsche Politik grundlegend nicht versteht und auch die deutsche Bevölkerung nicht. Er wird nicht warten, ob wir schwere Waffen schicken oder nicht. Wenn er die Motivation hat, Europa zu zerbomben, dann wird er das tun. Wenn er nicht diese Motivation hat, dann wird er das auch dann nicht tun, wenn wir schwere Waffen schicken", so Weisband. "Wenn man sich aus Angst vor einem Gegner auf seine Forderungen zurückzieht, da macht man keine Deals, dann lässt man sich erpressen."

Putin hatte nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine angekündigt, dass Länder, die sich einmischen, mit unvorstellbaren Konsequenzen rechnen müssten. Jedes Land, das von außen eingreifen wolle, werde eine "blitzschnelle" Antwort erhalten, erklärte er zuletzt.

Die "Streitkräfte der strategischen Abschreckung" – also auch Atomwaffen – hatte Putin bereits Ende Februar in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen lassen. Diese Woche warnte Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der Konflikt in der Ukraine könne in einen Weltkrieg ausarten. Die Gefahr sei ernst, real und nicht zu unterschätzen, sagte Lawrow gegenüber russischen Staatsmedien.

"Auch wenn es unserem Gerechtigkeitssinn widerspricht, auf diese ungeheure Drohung einzugehen, es ist klug, sie ernst zu nehmen", erklärte dazu am Dienstag der Ko-Vorsitzende der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Dr. Lars Pohlmeier.

"Sollte auch nur ein Teil der Atomwaffen aus den Arsenalen Russlands und der USA zu Einsatz kommen, würde das Leben auf der Erde, wie wir es kennen, enden. Die Frage nach dem Verursacher der Katastrophe wäre dann unerheblich. Deshalb sind Deeskalation und Diplomatie der einzig richtige Weg. Mit jedem weiteren Kriegstag wächst die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes, ob in einer für Russland militärisch ausweglosen Situation oder durch technische oder menschliche Fehler."
Dr. Lars Pohlmeier, IPPNW

Bei einem Missverständnis, einem Unfall oder einem Fehler – sind die Vorwarnzeiten zu kurz – und im Fall des Einsatzes "taktischer Atomwaffen" wären die Menschen in der Ukraine vermutlich die ersten Opfer. Der Vorwurf, die Ablehnung der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sei ihnen gegenüber verantwortungslos, greife deshalb zu kurz, so Pohlmeier. Es räche sich jetzt, dass zu Friedenszeiten nicht nuklear abgerüstet worden sei.

Dabei ist am 22. Januar 2021 der Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen in Kraft getreten, der bereits 2017 mit 122 Stimmen verabschiedet worden war. Sämtliche Atommächte, darunter Russland und die USA, fanden das aber keine gute Idee und boykottieren das Vertragswerk. Deutschland wiederum beruft sich auf Nato-Bündnisverpflichtungen und will deshalb vorerst nicht beitreten, aber laut Koalitionsvertrag der "Ampel" als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz teilnehmen.
Vielleicht lohnt es sich ja, wenn Mitglieder der Bundesregierung dort einmal zu hören bekommen, wie ihre Haltung in Staaten ohne Atomwaffen oder "nukleare Teilhabe" ankommt.