Pazifistische Bomben an Bord
Hipster-Wikinger, Hühnergegacker, ein Rosen-Blutbad und eine singende Barbie-Torte: das Eurovisions-Narrenschiff 2018 sticht in See
"All aboard" lautet das Motto für den diesjährigen Eurovision Song Contest in Lissabon. Portugal präsentiert sich als Seefahrer-Nation mit maritimen Elementen im Song Contest-Logo und mit einer Bühne, die an einen Schiffsrumpf erinnert und mit mehreren Brücken und Anspielungen an eine Armillarsphäre Aufbruchsstimmung verbreitet.
Tatsächlich ist vieles neu in diesem Jahr - die von vielen je nachdem erhoffte oder befürchtete Zeitenwende jedoch ist nicht eingetreten. Als Salvador Sobral 2017 mit einer zarten Jazz-Ballade und ohne teure Spezialeffekte den ersten portugiesischen Eurovision-Songcontest-Sieg erringen konnte, sprachen viele von einem "Sieg für die Musik". "Music is not fireworks, music is feeling" lautete denn auch Sobrals Botschaft, als er die Trophäe entgegennahm. Manche sahen damit schon eine Trendwende hin zu einem höheren künstlerischen Anspruch gekommen, weg von der ebenfalls von Sobral kritisierten "Wegwerf-Musik", die musikalische Einfallslosigkeit mit bombastischen Lichtspielen kompensiert.
So kündigte der portugiesische Sender RTP an, dem technischen Wettrüsten der letzten Jahre ein Ende zu bereiten und auf LED-Wände und -Böden (in den letzten Jahren zum Standard geworden) zu verzichten. Bedeutet das alles nun, dass der Eurovision Song Contest zurück zu seinen Wurzeln findet, als er noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß und die Sänger von einem Orchester begleitet wurden? Das Vorbild, das italienische Sanremo-Festival, funktioniert immerhin bis heute so.
Selbstverständlich nicht.
Immerhin ist der Eurovision-Songcontest, daran sei hier ausdrücklich erinnert, nicht einfach ein internationaler Musikwettbewerb. Er ist ein Musikwettbewerb der Fernsehsender, die sich zur European Broadcasting Union zusammengeschlossen haben oder mit dieser assoziiert sind. Die ausgewählten Künstler repräsentieren insofern genaugenommen nicht eine Nation, sondern jeweils die BBC, den NDR, den ORF oder Perwy Kanal. Die Fernsehtauglichkeit der Song-Inszenierung ist mithin ein entscheidendes Kriterium, denn damit können die verschiedenen Delegationen ihren Kollegen unter Beweis stellen, dass sie etwas von ihrem Handwerk verstehen.
Die "Sparsamkeit" der Portugiesen wurde daher von vielen als Herausforderung angenommen, ihre Kreativität zu entfalten und den gesetzten Rahmen der drei Minuten Maximallänge ihres Beitrags zu einem funkensprühenden Spektakel zu machen. Musik mag "not fireworks" sein - aber Eurovision ist genau das. Und das wissen auch die Veranstalter. Nur, weil es keine LED-Wände und -Böden mehr gibt, heißt das nicht, dass man nicht selbst welche mitbringen darf. Und auch sonst wurde mit Requisiten, Bühnenbauten und Pyrotechnik nicht gekleckert. Schwedens Sender SVT beispielsweise bringt eine gewohnt geschniegelte Darbietung, die schon dermaßen Musikvideo ist, dass man fast vergisst, dass man eine Bühnenshow sieht.
Auch der NDR lässt sich nicht lumpen. Er bebildert Michael Schultes leicht rührseligen Song "You Let Me Walk Alone" mit verdeutlichenden Schwarz-Weiß-Bildern, deren Verdoppelungseffekt man billig finden kann - sein Publikum wird er aber zweifellos erreichen. Die enttäuschenden Ergebnisse der letzten Jahre dürften sich für die Deutschen in diesem Jahr jedenfalls nicht wiederholen.
Nach der Zwangspause von 2017 ist auch der russische Perwy Kanal wieder mit dabei. Julia Samoilowa, deren Auftritt in Kiew letztes Jahr aus fragwürdigen Gründen unterbunden wurde, erhält eine zweite Chance. Dies ist umso erstaunlicher, als beispielsweise der rumänische Sender TVR nach seinem Ausschluss vom ESC 2016 im Folgejahr keineswegs wieder den übergangenen Ovidiu Anton antreten ließ, sondern mit Ilinca und Alex Florea und "Yodel It" eines seiner besten Teilnahme-Ergebnisse einfuhr.
Da Samoilowa auf einen Rollstuhl angewiesen ist, war eine statische Inszenierung der Sängerin vorhersehbar. Warum man sie aber ausgerechnet auf einem gleißenden Eisberg platziert hat, von dem herunter sie wie die Schneekönigin aus Frozen ihr "I Won't Break" darbietet, bleibt rätselhaft. Es steht zu befürchten, dass sie damit Schiffbruch erleiden wird.
Was bei Samoilowa nicht funktioniert, könnte bei Elina Netšajeva zum Erfolgsgeheimnis werden. Die estnische Sängerin bietet ihr Koloratur-Lied, das zuweilen hart am Ultraschallbereich entlangschrammt, in einem Effekt-Kleid dar, in dem sie bis zur Hüfte steckt wie eine Motivtorten-Barbie. Dieses Kleid übergießt sich wechselnd mit Farben und Mustern, und das gelingt so spektakulär, dass Netšajeva sogar als Mitfavoritin für den Sieg gehandelt wird.
Allerdings ist in diesem Jahr das Feld der Favoriten so breit gestreut wie selten. Zwar gilt die Israelin Netta mit ihrem knalligen Dance-Song "Toy" in den Wettbüros als sichere Siegerin, doch gerade die letzten beiden Jahre haben gezeigt, dass beim ESC immer mit Überraschungen zu rechnen ist. Freilich spricht einiges für Netta. Ihre wuchtige Präsenz, ihr Charme, die als feministisch interpretierbare Aussage ihres Liedes und die verspielte Umsetzung mit dem charakteristischen Hühnergegacker sind zweifellos Bonuspunkte.
Doch Ähnliches gilt für ihren Konkurrenten Mikolas Josef, der ebenfalls aus der Sicht eines geschassten Liebhabers singt. Allerdings hat sich der Tscheche bei der ersten Probe am Rücken verletzt, sodass er in verschiedene Krankenhäuser verlegt werden musste und sogar eine Zeitlang nicht gehen konnte. Seine akrobatische Tanzdarbietung wird daher nur in einer reduzierten Form stattfinden können - sehr schade angesichts der bemerkenswerten Professionalität des jungen Sängers, den ich von Anfang an als sichere Top 5 gesetzt hatte. Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass er das beste Ergebnis eines tschechischen Teilnehmers aller Zeiten erringen wird.
Netta, Elina Netšajeva und Mikolas Josef müssen jedoch alle drei zuerst das erste Halbfinale überstehen, das am Dienstag, 8. Mai, ausgetragen wird. Dieses Halbfinale gilt als "Killer-Halbfinale" und Kenner erwarten sich ein regelrechtes "Blutbad", da nur 10 der 19 Acts es ins Große Finale schaffen werden. Auch der österreichische und der Schweizer Beitrag treten in diesem Halbfinale auf, doch während der aus Linz stammende Cesár Sampson mit seinem samtig vorgetragenen Gospel-Song gute Chancen hat, wird es für die Schweiz wohl sehr eng werden. Dabei haben die Geschwister der Band ZiBBZ einen durchaus kraftvollen Song zu bieten, der mit dem Hass im Netz ein hochaktuelles Thema anspricht. Doch die allzu sparsame und zahme Inszenierung könnte dazu führen, dass der Beitrag weder bei Jury noch Publikum im Gedächtnis hängen bleibt.
Dieses Problem wird Alekseev aus Weißrussland nicht haben. Er trumpft mit der theatralischsten Darbietung des Bewerbs auf. Nur so viel sei verraten: eine rote Rose und eine Tänzerin richten ein Blutbad an. Ob es fürs Große Finale reicht, ist fraglich, aber ähnlich wie der nackte Ivan und seine Wölfe vor zwei Jahren könnte der Beitrag Kultstatus erringen.
Auch den Hipster-Wikingern der dänischen Band Rasmussen werden die Herzen der Fans zufliegen. Flankiert von geblähten Segeln trotzen die bärtigen Mannen einem veritablen Schneetreiben und schwingen dazu eine weiße Friedensfahne - Eurovision at it's best.
Ist der erwartete Sobral-Effekt also völlig ausgeblieben? Ja - wenn man sich tatsächlich erwartet hatte, dass irgendjemand mit dem Erfolgsrezept des letzten Jahres antreten würde. Doch davon war nicht auszugehen. Was allerdings zu bemerken ist: Es wird wieder mehr in Originalsprache gesungen. Und die Palette der Musikgenres ist größer geworden. Für beide Phänomene beispielhaft ist etwa die ungarische Band AWS mit dem Metal-Kracher Vislát Nyár.
Freilich ist das Abweichen vom üblichen Pop-Geplänkel keine Erfolgsgarantie. Der Niederländer Waylon, 2014 als Teil der Common Linnets immerhin noch Zweitplatzierter hinter Conchita Wurst, tritt mit einem Country-Rock-Song auf, der mit seiner Inszenierung für Kontroversen sorgt. Sich ausgerechnet bei einem Genre, das man wie kein zweites mit US-Traditionen verbindet, als weißer Mittelpunkt von dunkelhäutigen Tänzern umspielen zu lassen, darf zumindest als ungeschickt bezeichnet werden.
Viel charmanter wirken da die Moldawier von Do Re Dos, die mit ihrer simplen, aber überaus effektvollen Darbietung die preisgünstigste Lösung des gesamten Wettbewerbs gefunden haben. Sie treten damit stilistisch in die Fußstapfen ihrer Landsleute vom Sunstroke Project, die es im letzten Jahr sogar auf den historischen dritten Platz geschafft haben.
Mit einem Augenzwinkern tritt auch die Slowenin Lea Sirk auf, die mit "Hvala ne" ("nein, danke") eine weitere schmissige Dance-Nummer nach Lissabon bringt.
Ob sie im Buhlen um Aufmerksamkeit wird mithalten können, ist fraglich. Noch mehr als in den vergangenen Jahren setzen die Teilnehmer auf Social-Media-Offensiven. Die Finnin Saara Aalto hat ihr Lied "Monsters" in 34 Sprachen eingesungen. Michael Schulte lädt seine Fans ein, sich mit eigenen Fotos ein Musikvideo zu seinem Lied zu erstellen. ZiBBZ erfreuen mit einer One-Take-Version ihres Beitrags und Elina Netšajeva überraschte das Pressezentrum mit der anspruchsvollen Arie der Olympia aus Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach.
Meine persönlichen Favoriten werden es im diesjährigen Wettbewerb schwer haben. Da ist einerseits der italienische Beitrag von Ermal Meta und Fabrizio Moro. "Non mi avete fatto niente" war bereits beim Sanremo-Festival heftig umstritten, da der Refrain eins zu eins von einem anderen Lied des Mitkomponisten Andrea Febo übernommen wurde. Die Plagiatsvorwürfe wurden letztlich fallengelassen, und das Lied, das zu Widerstand gegen Krieg und Terror aufruft, kann in Lissabon antreten. Der rigoros italienische Text glänzt wie schon Francesco Gabbanis Occidentali's Karma mit Tiefgang, der jedoch der Mehrheit des Publikums entgehen dürfte. "Denn unser Leben ist keine Frage des Standpunkts - und es gibt keine pazifistischen Bomben", heißt es da etwa. Ob die in verschiedenen Sprachen eingeblendeten Textzeilen aus diesem Dilemma helfen, wird sich weisen.
Immerhin müssen Meta und Moro kein Halbfinale überstehen und sind als Vertreter eines "Big Five"-Senders automatisch im Finale gesetzt. Ob die Sänger der georgischen Ethno-Jazz-Band Iriao dieses Finale überhaupt erreichen können, ist hingegen äußerst unsicher. Ihr Lied Sheni Gulistvis (ins Englischen nur ungenügend mit "For You" übersetzt) öffnet mit seiner Einfachheit und den polyphonen Klangwelten die Tür zu einer anderen musikalischen Dimension. Ein Lied für Träumer und Romantiker - aber fernsehtauglich ... ? Eher wird der Montenegriner Vanja Radovanovic mit seiner Balkan-Ballade Inje das Ticket fürs Große Finale lösen - gefühlvolle Balkanklänge haben noch immer ihre Fans gefunden.
Es wird jedenfalls wieder spannend. Es ist noch das eine oder andere "dark horse" im Rennen, das sich erst auf den letzten Metern von den Mitbewerbern absetzen könnte. Werden die Franzosen Madame Monsieur mit ihrem Lied um das Flüchtlingskind Mercy tatsächlich die Massen bewegen? Kann die Band Equinox das letztjährige bulgarische Traumergebnis (zweiter Platz) wiederholen oder sogar übertrumpfen? Gelingt es Alexander Rybak nach seinem Märchen-Sieg 2009 zum zweiten Mal, den Song Contest nach Norwegen zu holen? Oder macht am Ende die zypriotische Ersatz-Beyoncé Eleni Foureira mit ihrem feurigen Auftritt Furore?
Da auch in diesem Jahr wieder der Bewertungsmodus der Experten-Jurys überarbeitet wurde, sind Prognosen nahezu unmöglich. Inwiefern diese Jurys ihrer "ausgleichenden" Rolle gerecht werden, mit der sie verhindern sollen, dass "nur" der Publikumsgeschmack ausschlaggebend ist, bleibt umstritten.
In der Vergangenheit haben sie eher darin geglänzt, gewisse Publikumslieblinge auszubremsen und etwa den haushohen Sieg des Russen Sergej Lasarew zu verhindern. Freilich wäre ein Song Contest in Moskau vielen ein Dorn im Auge gewesen. Folgt man jedoch einer derartigen Logik, müsste man auch fragen, inwiefern ein Song Contest in Tel Aviv wünschenswerter sein soll. Gewiss: Netta und ihr Song stehen für sich, allenfalls noch für den sie aufbietenden israelischen Sender Kan - nicht aber für die israelische Politik.
Es ist daher zu hoffen, dass politische Erwägungen dieses Jahr keine Rolle spielen - doch davon auszugehen ist nicht. Denn so sehr die EBU auch immer wieder den unpolitischen Charakter des Musikwettbewerbs betont und so sehr auch die Fans die kulturelle Vielfalt und den unvoreingenommenen Austausch zu schätzen wissen - ganz ausblenden lassen sich politische Fragestellungen nicht. Da können Sender, Sänger und Veranstalter noch so sehr ihre friedlichen Absichten beteuern, letztlich ist eine erfolgreiche Charmeoffensive vor 200 Millionen Zuschauern auch ein probates Mittel politischer Propaganda. Es gibt eben doch pazifistische Bomben.
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