Peking in der Zwickmühle

Nach den anti-japanischen Protesten setzt die chinesische Regierung auch aus Selbstinteresse auf Beruhigung

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Seit drei Wochen kommt es in einigen Großstädten Chinas immer wieder zu anti-japanischen Demonstrationen. Vor zwei Wochen demonstrierten in Peking rund 10.000 Studenten und andere meist junge Menschen und deckten die japanische Botschaft mit Steinen und Farbbeuteln ein. Am vergangenen Samstag fanden die größten Proteste in Shanghai statt, wo nach unterschiedlichen Angaben 10.000 bis 20.000 meist junge Menschen vor das japanische Konsulat zogen und es über dichte Polizeiketten hinweg mit Eiern und Steinen bewarfen. Nach Berichten verschiedener Nachrichtenagenturen wurden Parolen gerufen wie "Japanische Schweine raus!"

Nach Angaben des japanischen Konsulats leben in der Küstenmetropole, die auf dem besten Wege ist, sich zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren Ostasiens zu mausern, 34.000 Japaner. Weitere 30.000 würden sich ständig auf Geschäftsreise in der Stadt aufhalten. Kazumasa Higashi, Shanghai-Korrespondent der japanischen Zeitung "Yomiuri Shimbun" berichtet, dass sich Ende 2003 24.000 ausländische Unternehmen in Shanghai niedergelassen hatten, davon 4.500 japanische. Jeden Tag kämen allein aus Japan zwei neue hinzu. Japanische Konzerne haben in der Stadt an der Mündung des Yangtses bisher zwischen 60 und 70 Milliarden Euro investiert.

Proteste in Peking am 0. April. Bild: Ziboy.com

Für die japanischen Geschäftsleute, berichtet Higashi, seien die gewaltsamen Proteste ein Schock. Auch Sean Curtin vom in Hongkong produzierten Onlinemagazin Asia Times bestätigt diese Beobachtung, und die Tokioter Börsendaten sprechen diesbezüglich Bände: Am Montag brachen dort die Kurse auf breiter Front ein. Von 82 Titeln gaben 81 nach, berichtet die Wirtschaftsnachrichtenagentur "Bloomberg". Das sei der breiteste Verlust seit dem 12. September 2001. 115 Milliarden US-Dollar seien vernichtet worden.

Nach Berichten taiwanesischer und japanischer Zeitungen, die auch von den westlichen Nachrichtenagenturen bestätigt wurden, kam es während der Demonstrationen wie in den Vorwochen auch zu einigen Übergriffen auf einzelne Japaner, sowie zur Verwüstung einiger japanischer Restaurants. Weitere Demonstrationen gab es am Samstag in Hongkongs Zwillingstadt Shenzhen, sowie in anderen Küstenstädten im Süden. In Peking blieb es hingegen diesmal ruhig. People's Daily berichtet von einem massiven Polizeiaufgebot in den Straßen der Hauptstadt und den von anderen Städten. Eine angekündigte Demonstration sei nicht zustande gekommen, nach dem die Innenbehörde am Freitag eine ernste Warnung verbreitet hatte. Unklar blieb, ob Ansammlungen aufgelöst wurden oder ob potentielle Demonstranten sich von den Drohungen haben einschüchtern lassen.

Die Proteste hatten sich unter anderem an einem seit Jahren sowohl in Japan als auch zwischen diesem und seinen Nachbarn höchst umstrittenen Schulbuch entzündet (Neue Cracks von japanischen Websites; Japanisch-koreanischer Kulturkampf). In diesem wird das Massaker von Nanking 1937 lediglich als "Vorfall" bezeichnet. Während des japanisch-chinesischen Krieges hatten japanische Truppen die seinerzeitige Hauptstadt der von der Guomintang geführten Republik China eingenommen und bis zu mehreren Hunderttausend Frauen, Männer und Kinder ermordet. Das Lehrbuch behauptet außerdem, die japanische Besetzung Ost- und Südostasien habe zur Befreiung von kolonialer Herrschaft geführt. Die rechte "Japanische Gesellschaft für die Reform der Geschichtsbücher für den Schulunterricht" kämpft seit Jahren gegen den Widerstand von Lehrer- und Elternorganisationen um die Einführung diese Buchs in den Sekundarstufen. Bisher wird es nur in einer verschwindenden Zahl von Schulen verwendet.

Bei Japans Nachbarn, neben China vor allem auch in den beiden koreanischen Staaten, auf den Philippinen und zum Teil auch auf Taiwan, führt der Schulbuchstreit zu erheblicher Verstimmung, insbesondere, da er nur ein Indikator für das Verhältnis der japanischen Führung zur Geschichte ihres Landes ist. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass Japans Premier Junichiro Koizumi regelmäßig einmal im Jahr den Yasukuni-Schrein besucht, in dem unter Hunderttausenden Gefallenen japanischen Soldaten auch einige der Hauptkriegsverbrecher verehrt werden. In Südkorea und China führen die Besuche in gleicher Regelmäßigkeit zu vehementen offiziellen und auch öffentlichen Protesten. Sie sind auch die Ursache dafür, dass trotz rasant wachsender ökonomischer Integration der Region Japan politisch weitgehend isoliert ist. Auch nach über vier Jahren im Amt wurde Koizumi noch nicht zu einem Staatsbesuch in die Volksrepublik eingeladen. Erst am Dienstag wies der japanische Ministerpräsident erneut die Kritik an seiner Verehrung der Kriegsverbrecher zurück: "Jedes Land hat seine eigene Geschichte, Traditionen und Sichtweisen", sagte er.

Solche Äußerungen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass es von Japan auch fast 60 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Asien kein offizielles Schuldeingeständnis und keine Entschuldigung für den Überfall auf seine Nachbarn sowie die zahllosen Kriegsverbrechen gibt. Zum Beispiel wurden in China, Korea und auf den Philippinen Hunderttausende Frauen zu Zwangsprostituierten der kaiserlichen japanischen Armee gemacht. Die Überlebenden kämpfen bis heute vergebens für Entschuldigung und Entschädigung. Erst am Dienstag wies ein Gericht in Tokio einen Revisionsantrag chinesischer Kläger ab, die Entschädigung für das Massaker in Nanking sowie für Experimente gefordert hatten, die eine berüchtigte japanische Spezialeinheit an Gefangenen durchgeführt hatten.

Bei einem derartigen Umgang mit der eigenen Verantwortung wundert es nicht weiter, dass Japans – von Deutschland unterstützte – Forderung nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat in der südkoreanischen, philippinischen und chinesischen Öffentlichkeit auf lebhafte Ablehnung stieß. In China läuft seit etwa zwei Monaten eine Unterschriftenkampagne für eine Eingabe an den UN-Generalsekretär Kofi Annan, die bereits mehr als 20 Millionen Unterstützer gefunden haben soll.

Während diese Petitionskampagne, die Privatleute im Internet initiiert hatten, von den chinesischen Medien lebhaft aufgegriffen wurde, herrschte über die seit drei Wochen anhaltenden Demonstrationen bis zum Sonntag eher Funkstille. Weder im Fernsehen noch in den Zeitungen wurde berichtet, aber offensichtlich ist auch in China das Internet inzwischen so verbreitet und populär, dass eine solche Nachrichtensperre nur sehr bedingt wirkte. Im Web wurde zu den Protesten aufgerufen, die in einer Reihe der großen Städte an der Ostküste stattfanden.

Deutlich wurde das zwiespältige Verhältnis der Führung zu den Protesten: Einerseits ist sie wegen Japans zunehmend aggressiverer Politik besorgt, zu der unter anderem auch Aufrüstung und die geplante Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung gehört. So gesehen kämen die Demonstrationen gerade recht. Andererseits hat China eine über hundertjährige Geschichte von Aufständen, in denen sich jeweils die Wut über Erniedrigung durch ausländische Mächte mit extremen sozialen Spannungen und der Unzufriedenheit mit der Zentralregierung mischte.

Mindestens zwei der Zutaten sind derzeit gegeben. Der starke chinesische Nationalismus, der längst den Sozialismus als ideologischen Kitt abgelöst hat, hat derzeit in Japan eine ideale Projektionsfläche gefunden, und die sozialen Spannungen zwischen Arm und Reich sind so groß wie nie seit Gründung der Volksrepublik. Daher könnte ein massives Vorgehen der Polizei, die im Übrigen mit ziemlicher Sicherheit starke Sympathie für das Anliegen der Demonstranten hat, schnell dazu führen, dass die Proteste außer Kontrolle geraten und sich gegen die Regierung in Beijing richten. Daher ist in den öffentliche Kommentaren, die sich am Sonntag erstmals in den landesweiten Zeitungen mit den Demonstrationen beschäftigten, vor allem der Versuch zu sehen, sich an die Spitze des Protests zu setzen, um diesen in ruhigeren Bahnen auslaufen zu lassen. Auch die Betonung der gesellschaftlichen Stabilität, die in diesen zu lesen war, deutet darauf hin. Unterdessen rief Außenminister Li Zhaoxing die ?evölkerung seines Landes auf, nicht an ungenehmigten Demonstrationen teilzunehmen, die Forderungen ruhig und friedlich zum Ausdruck zu bringen und "den Patriotismus in Begeisterung für Arbeit und Studium umzusetzen".

Inzhwischen hat sich der japanische Ministerpräsient Junichiro Koizumi für die Kriegsverbrechen entschuldigt, um ein Treffen mit den chinesischen Präsidenten Hu Jintao während des asiatisch-afrikanischen Gipfels in Indonesien zu ermöglichen.

"In der Vergangenheit fügte Japan durch seine Kolonialherrschaft und Aggression den Menschen vieler Länder, vor allem denen von asiatischen Nationen, enormen Schaden und Leid zu", sagte Koizumi, der gleichwohl eine direkte Entschuldigung bei China vermied. Japan habe wegen dieser geschichtlichen Ereignisse stets das "Gefühl tiefen Bedauerns" empfunden.