Pest und Schwefel

Nach 39 Jahren verlieren die Sozialdemokraten Nordrhein-Westfalen

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Das Wahldebakel der SPD in Nordrhein-Westfalen wird die politische Landkarte zwar verändern (Wunsch nach Veränderung). Die Innen- oder gar die Sozialpolitik wird der Sieg der CDU nicht beeinflussen, nicht in NRW und ebenso wenig auf Bundesebene. Das war schon vor dem Ausgang der Landtagswahl klar: Sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten nämlich haben im Wahlkampf nicht auf Inhalte gesetzt - Parolen standen im Mittelpunkt. Dafür hatten beide Volksparteien guten Grund, denn Unterschiede zwischen ihnen musste der interessierte Wähler mit der Lupe suchen. Zu Recht, das muss eingestanden werden, wies die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel auf die rapide gestiegene Arbeitslosigkeit in dem größten und bevölkerungsreichsten Bundesland hin. Doch was hat ihre Partei zu bieten? Nach einer Bestandsaufnahme, sagte der designierte Landesvater Jürgen Rüttgers gegenüber dem "Bonner Generalanzeiger" stünde ein "harter Sparkurs für NRW" an. Nach Jahren des Arbeitsplatzschwundes, der Deregulierung und des Abbaus von Sozialleistungen wird das die Stimmung an Rhein und Ruhr nicht heben.

Dabei hatte die Führung der Sozialdemokratie bis zuletzt alle Register gezogen. In Ermangelung eines politischen Profils, zauberte der Parteivorsitzende Franz Müntefering nur wenige Wochen vor dem Urnengang eine "Kapitalismusdebatte" aus dem Ärmel. Dass die Wölfe über Nacht zu Vegetariern geworden sein sollten, konnte ihm nach "Hartz IV" freilich niemand mehr glauben. Die Schmach für die SPD ist an diesem Abend nicht nur die Niederlage, sondern vor allem ihre Umstände. Denn war es den Genossen bei vergangenen Wahlverlusten lediglich nicht mehr gelungen, ihre enttäuschte Basis zu mobilisieren - so dass sie in absoluten Zahlen unter die CDU-Marke fielen -, ist der Ausgang der heutigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfahlen eine bewusste Entscheidung der Bevölkerung: Die Wahlbeteiligung lag sogar höher als noch vor fünf Jahren.

Klar ist also der Regierungswechsel. Klar ist auch, dass alles beim Alten bleibt. Zu befürchten ist ein irreparabler politischer Schaden durch die populistische Kampagne der SPD-Führung. Indem Franz Müntefering Unternehmer mit "Heuschrecken" verglich, näherte er sich scharf den Nazi- und Neonaziparole von vermeintlichen Volksschädlingen an. Solch verlockender Populismus wurde von den SPD-nahen und ebenso hilflosen Gewerkschaften dankend angenommen. Das Titelblatt des IG-Metall-Magazins legte davon Zeugnis ab (Die Mücken sind los). US-Unternehmer als blutgierige Insekten - Juden als verlauste Ratten. Die unterschiedliche Intention ist natürlich nicht zu leugnen, in beiden Fällen aber wird sich des gleichen MechanismusŽ bedient. Und darin besteht die Gefahr: Auch die Wahlerfolge deutscher Neofaschisten seit den achtziger Jahren sind in einer solchen populistischen Verknappung komplexer Sachverhalte begründet. Die Parole "Ausländer raus" ist nur ein Beispiel dafür.

Rechtsradikalen und neofaschistischen Parteien von DVU über Reps bis NPD wurde damit eine Steilvorlage geliefert. Sicher: Diesmal ist die Rechnung nicht aufgegangen. In den seit jeher konservativen Gebieten Nordrhein-Westfalens wurde die CDU heute als politische Alternative gewählt. Im traditionell linken Ruhrgebiet mag manch einer für die Christdemokraten votiert haben, um der SPD einen Denkzettel zu verpassen. Solche Protestwähler hat aber auch die NPD in den sächsischen Landtag gebracht.

Der SPD-Kandidat Peer Steinbrück hatte noch am Wochenende versucht, die sozialdemokratische Basis zu mobilisieren. Sein stärkstes Argument zur Wahl seiner Partei: "Allein der Gedanke, die dummen Gesichter der CDU zu sehen, ist es wert". Heute Abend guckt er dumm. Bei einem Fortbestehen der unsozialen Einheitsfront aus beiden Volksparteien aber könnte die Bestürzung bald auf allen (demokratischen) Seiten sein.