Piketty: Der Nahe Osten ist die Region mit der größten Ungleichheit weltweit

Seite 2: Naher Osten: Extreme innere Ungleichheiten

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Für die "extremen inneren Ungleichheiten" innerhalb der Region unterteilt er sie in fünf Blöcke, die jeweils etwa 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Stellen: 1. Türkei, 2. Iran, 3. Ägypten, 4. Irak und Syrien und andere Nicht-Golfstaaten wie Jordanien, Libanon, Palästina und Jemen und 5. die Golfstaaten.

Mit Ausnahme der Golfstaaten würde das Pro-Kopfeinkommen eines Erwachsenen überall unter dem europäischen Durchschnittwert liegen. Für die Türkei und Iran behaupten Piketti et al. Kaufkraftparitäts-Werte, die bei etwa 50 bis 60 Prozent des westeuropäischen Durchschnitts liegen.

Für Ägypten, Irak und Syrien belaufen sich ihre Schätzungen auf zwischen 30 und 40 Prozent. Lege man den Marktwechselkurs zugrunde, so liegen die Werte für die letztgenannten Länder bei 10 bis 15 Prozent. Die Türkei komme da besser weg als diese Länder, Iran dagegen nicht. Das türkische Wirtschaftswachstum in den Jahren von 2000 bis 2015 spielt da mithinein, die starke Lira und bei Iran die schwache Währung.

Golfstaaten: Eine "ganz eigene Kategorie"

Die Golfstaaten bilden demgegenüber eine ganz andere, eigene Kategorie, so Piketty. Beim Maßstab Kaufkraftparität hatten sie das Dreifache an Durchschnitts-Pro-Kopf-Einkommen gegenüber Westeuropa im Jahr 1990, 2016 ist es nur mehr das Zweifache. Durch die "Brille" des Marktwechselkurses gesehen, war das durchschnittliche nationale Pro-Kopf-Einkommen der Golfstaaten 1990 um 40 Prozent höher als der westeuropäische Level und ist derzeit um 10 Prozent niedriger.

Zwar habe sich die enorme Kluft der Durchschnittseinkommen zwischen den Golfstaaten und den bevölkerungsreicheren anderen Staaten des Nahen Ostens in den letzten 25 Jahren verringert, aber der Einkommensunterschied sei noch immer "enorm". Die Golfstaaten stellen 15 Prozent der Gesamtbevölkerung im Nahen Osten, aber sie haben einen 42-prozentigen Anteil am Gesamteinkommen aller Staaten des Nahen Ostens, in Kaufkraftparität gerechnet, und 47 Prozent, wenn man den Marktwechselkurs als Maßgabe anlegt.

Die Abnahme der Ungleichheit zwischen den Golfstaaten und den anderen Nahost-Ländern in den letzten Jahren sei u.a. mit der starken Zunahme der Zuwanderarbeiter in Golfstaaten zu erklären, die den Einkommensdurchschnitt beeinflussen, auch spiele andere Faktoren, etwa Öleinnahmen, eine wichtige Rolle. Für interessierte Leser sei darauf verwiesen, dass Piketty zum Größenverhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderer auch Unterschiede zwischen den Golfstaaten näher beleuchtet.

Als Kernergebnisse daraus kann man festhalten, dass sich die enorme Kluft zwischen dem Ensemble Golfstaaten und den anderen Blöcken im Nahen Osten als sehr stabil erweist, die Veränderungen der letzten Jahre seien diesem großen stabilen Muster gegenüber geringfügig. Und als zweites: Die Steuerdaten, ein zentrales Grundlagenelement der Studie, seien etwa in Saudi-Arabien sehr lückenhaft. Über die Reichsten sei aufgrund des Mangels an Steuerdaten wenig zu erfahren, zudem hätten diese die Möglichkeit, Einnahmen über ausländische Konten zu verbergen.

Die "Top-Ten" des Nahen Ostens im Vergleich mit Europa und den USA

Weshalb, und das ist für Piketty wichtig, die in der Studie gemachten Schätzungen "konservativ" seien. Die Spitzen seien ausgeschlossen. So sei es wahrscheinlich, dass die Vergleichswerte nach oben korrigiert werden müssten, hätte man bessere Daten - und Südafrika wäre nicht mehr Spitzenreiter, sondern der Nahe Osten (daher das Fragezeichen bei der Überschrift der Studie).

Zu seiner Hauptthese, wonach der Nahen Osten als einheitlicher Komplex die weltweit höchste Ungleichheit aufweist, bringen Piketty et al. folgende Zahlen vor: Die obersten zehn Prozent haben im Nahen Osten einen Anteil am Gesamteinkommen von 61 Prozent. In Westeuropa betrage der Anteil 36 Prozent, in den USA 47% und in Brasilien 55 Prozent.

Man könne den Nahen Osten, Westeuropa und die USA gut miteinander vergleichen, so die Studie, weil alle drei Regionen ähnliche Bevölkerungsgrößen haben: 410 Millionen im Nahen Osten, 420 in Westeuropa und 320 Millionen in den USA. Zugleich behauptet die Studie, dass es einen "relativ großen Grad an kultureller, historischer und linguistischer Nähe" gebe, so dass man das Gefühl habe, dass der Vergleich "legitim und aussagekräftig" sei.

Brasilien mit einer Bevölkerung von 210 Millionen habe man hinzugenommen, weil dessen 55%-Anteilswert für das oberste Percentil als Ausweis für eine Ungleichheit bei den Einkommen gilt, die im globalen Maßstab zu den am meisten ausgeprägten gehört.

Hingewiesen wird auch darauf, dass das Niveau der Ungleichheit wie im Nahen Osten in weitaus bevölkerungsreicheren Ländern wie Indien und China signifikant weniger ausgeprägt sei.

Hätte man eine bessere Datenquelle, so sei es plausibel anzunehmen, dass das oberste Dezil im Nahen Osten gar einen Anteil von 65 bis 70 % des Gesamteinkommens habe, vielleicht gar höher. Der wirkliche Anteil werde in dieser Untersuchung höchstwahrscheinlich unterschätzt, insbesondere innerhalb der Golfstaaten.

Vervollständigt werden die Angaben zur Ungleichheit noch im Text der Studie (in den Grafiken gibt es noch zusätzliche) mit Zahlen zu den "unteren "50 % Prozent der Bevölkerung: Für den Nahen Osten ermittelt man hier einen Anteil von 9 Prozent am Gesamteinkommen, während er in Westeuropa bei 18 Prozent liege.