Piketty: Der Nahe Osten ist die Region mit der größten Ungleichheit weltweit

Seite 3: Angriffsflächen und die Wahrnehmungslücke "Ungleichheit"

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An den angesichts des Aufwandes relativ spärlichen Zahlen, die die Ungleichheit genauer ausdifferenzieren, und an der mehrfachen Betonung, dass das Hauptergebnis "sehr robust" oder "extrem robust" sei, lassen sich Unzulänglichkeiten der Studie erkennen. Sie bietet Kritiker breite Angriffsflächen.

Sachkundige Leser sei der Methodenteil nahegelegt. Als neu heben Piketty und seine Kollegen heraus, dass sie Steuerdaten mit Untersuchungen zu Haushalten zusammengebracht haben. Im Zusammenhang mit Saudi-Arabien weist die Studie ausdrücklich darauf hin, dass dieses Datenmaterial lückenhaft ist.

Sie stellt Ergebnisse von Modellrechnungen vor, die zum Beispiel die im letzten Jahrzehnt gut funktionierende türkische Wirtschaft als Faktor herausrechnet, um, wie auch bei der Einbeziehung von anderen Trendbeobachtungen (z.B. bei den Zuwanderern) zum für sie maßgeblichen Resultat zu kommen: "But the gap remains substantial."

Allen Unzulänglichkeiten und Angriffsflächen zum Trotz hat die Studie einen Mehrwert. Er liegt darin, den Blick auf die Krisenregion des Nahen Ostens auf das krass ausgeprägte Gefälle zwischen der Menge der Ärmeren und der wohlhabenden Elite zu rücken, sowohl in der Bevölkerung wie unter den Ländern. Es dominieren Erklärungen zu den Krisen, die auf Religionen gemünzt sind, Unterschiede zwischen den Konfessionen, tribalistische Rivalitäten, geopolitische Strategien.

Einzig die Interessen an Pipelines, Ölfelder, die Energieversorgung und andere Versorgungswege werden öfter als wirtschaftliche Faktoren in Analysen geltend gemacht. Wirtschaftliche Ungleichheit kommt nur am Rande in den Nahost-Berichten vor, als treibender Faktor so gut wie nie.

Den "sozialen Frieden" mit einer Militärjunta kontrollieren

Damit wird z.B. ein Motiv vernachlässigt, das auch erklären kann, weshalb Milizen oder einzelne Milizensöldner die Seiten wechseln. Zugegebenermaßen ist dieses Beispiel nur ein kleiner, im Großen zu vernachlässigender Aspekt (der aber zum Beispiel im noradfrikanischen Libyen in Sabratha zu wochenlangen Kämpfen zwischen Milizen geführt hat). Für ein größeres Bild, das die Wahrnehmungslücke, die mit dem Ausblenden der Ungleichheit erhalten bleibt, besser illustriert, sei auf exemplarisch auf Ägypten verwiesen.

Bei den Demonstrationen, die zum Sturz des damaligen Machthabers Mubarak führten, spielten Gewerkschaften eine bedeutende Rolle. Wichtige Organisatoren der Aufstände im Januar 2011 hatten zuvor Erfahrungen in Demonstrationen gesammelt, wo es um bessere Entlohnung ging.

Die Aufstände Anfang 2011 hatten ihre Vorläufer in sozialen Unruhen, bei denen Ungleichheit eine zentrale Rolle spielte. Ägypten ist, wie etwa im Buch "The Egyptians"von Jack Shenker beschrieben, ein Land, in dem die große Mehrheit - es ist das bevölkerungsreichste Land im Nahen Osten - längst erkannt hat, wie ungleich Vermögen und Einkommen verteilt sind.

Man braucht dort eine Militärjunta, um sich vor sozialen Unfrieden zu schützen. In anderen Ländern gibt es dazu durchaus parallelen. Die Sehnsucht nach starken Führern ist auch damit zu erklären, gewiss nicht monokausal, gerade nicht in den vielbeschriebenen Mosaik-Realitäten der Konflikte im Nahen Osten; aber die soziale Ungleichheit gehört als wichtiger Beweggrund für die Wut (vgl. die vielen "Tage des Zorns") in Nahost-Ländern ins Gesamtbild.