Piketty: Der Nahe Osten ist die Region mit der größten Ungleichheit weltweit

Burj Khalifa, Dubai. Foto: Nepenthes / CC BY-SA 2.5

"Die obersten zehn Prozent haben mindestens 61 Prozent Anteil am Gesamteinkommen." Der französische Wirtschaftswissenschaftler kümmert sich um einen großen blinden Fleck der Nahostberichterstattung

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Nur wenige Wirtschaftswissenschaftler werden wie der Franzose Thomas Piketty zu einem weltweit bekannten Star. Sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert wurde mit der englischen Übersetzung im Jahr 2014 zu einem Bestseller. Bis März dieses Jahres wurden laut Piketty zwischen 2,6 und 3 Millionen Exemplare verkauft. Sein thematischer Schwerpunkt ist die Ungleichheit beim Vermögen und Einkommen, dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf historische Entwicklungen.

Zum Phänomen Piketty gehört, dass wahrscheinlich nur eine Minderheit der Käufer den schön gestalteten, dicken Ziegel (im Print angeblich 816 Seiten) zu Ende gelesen haben dürfte. Dessen Botschaft packte der Spiegel zum Erscheinen der deutschen Ausgabe in die Kernaussage "Etwas ist faul im kapitalistischen System."

Zum Phänomen Piketty gehört daher auch, dass seine Thesen sofort Kritiker an die Decke gehen ließen, Widerspruch kam schnell, eine unübersehbare Zahl an Einwänden zu seiner Methodik und seinen Schlüssen, dazu eine Woge an Polemik. Seinem öffentlichen Image nach ist er ein kontroverser Ökonom, umso exponierter, da er sich, anders als viele Ökonomen, auf der linken Seite des Spektrums platziert. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf unterstützte er offen den (erfolglosen) sozialdemokratischen Kandidaten Benoît Hamon, zeigte aber auch Sympathien für Jean-Luc Mélenchon

Die Abschaffung der Vermögenssteuer als historischer Fehler

Piketty meldet sich nach wie vor zu aktuellen Themen zu Wort. Er hat einen Blog bei Le Monde. Kürzlich postulierte er dort, dass er den Abbau bzw. Beseitigung (i.O. "suppression") der Vermögenssteuer für einen "historischen Fehler" hält halte.

Die Reaktionen auf das Wagnis, finanzielle Vorteile und Privilegien der Begüterten derart zur Debatte zu stellen, kamen reflexartig. Sie zielten ad Personam und waren en gros ablehnend: "Piketty ist kein Wirtschaftswissenschaftler" oder "Nein, Herr Piketty, der Abbau der Steuer war kein Fehler", etc..

Zum Phänomen Piketty gehört zuletzt auch, dass seine Thesen nicht neu sind. Er insistiert. Die Vermögenssteuer als Instrument zur Nivellierung der Ungleichheit hatte er schon in seinem "Kapital" vorgestellt und schon damals gab es harte Kritik von Kollegen: "Das Steuerkonzept von Piketty - ein großer Irrtum!"

Nur Südafrika kann es mit der Ungleichheit im Nahen Osten aufnehmen

Seit wenigen Tagen ist nun eine Untersuchung Pikettys öffentlich zugänglich, die ebenfalls eine markante Ungleichheitsthese aufstellt - mit einem Fragezeichen: "Ist der Nahe Osten die Region mit der weltweit größten Ungleichheit?".

Leser, die ein schnelles Ergebnis sehen wollen, können sich hier eine Kürzestzusammenfassung anschauen oder gleich die Grafikbalken darunter: Sie zeigen, dass nur Südafrikas Top-10 Prozent einen geringfügig größeren Anteil am Einkommen haben.

Beide Balken, der für die obersten Zehn-Prozent des Middle East wie für Südafrika übertreffen die 60 Prozent Marke. West-Europa - wofür sich Piketty Deutschland, Großbritannien und Frankreich ausgewählt hat - die USA und Brasilien, das für seine ausgeprägte Ungleichheit berüchtigt ist, liegen weit darunter.

In der Studie selbst werden die Erkenntnisse zur weltgrößten Ungleichheit im Nahen Osten auf 26 Seiten näher erläutert. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Jahre von 1990 bis 2016. An Ländern des Nahen Ostens wurden in die Studie miteinbezogen: Bahrein, Ägypten, Iran, Irak, Jordanien, Kuweit, Libanon, Oman, Palästina, Katar, Saudi-Arabien, Syrien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Jemen.

Das enorme Bevölkerungswachstum

Das Kapitel, in dem die ersten Resultate vorgestellt werden (S.16 ff), die "Sektion 4", überschrieben mit "Extreme Einkommenskonzentration im Nahen Osten", beginnen Piketty und seine Kollegen Facundo Alvaredo und Lydia Assouad mit einer interessanten Beobachtung: So sei die Bevölkerung im Nahen Osten von 240 Millionen im Jahr 1990 auf fast 410 Millionen im Jahr 2016 angewachsen. Das seien etwa 70 Prozent. Das erste Fazit dazu, überrascht nicht: Der Anstieg der Durchschnittslöhne sei weitaus bescheidener.

Das machen Piketty et al. einmal über die Bezugsgröße (Benchmark) der durchschnittlichen Kaufkraftparität, die sie in der Euro-Währung ausdrücken, anschaulich: Pro erwachsenen Kopf sei das nationale Einkommen von 20.000 Euro im Jahr 1990 auf 23.000 im Jahr 2016 angewachsen (entspricht etwa 15%).

Lege man die andere Bezugsgröße, mit der das Team arbeitet, den "Marktwechselkurs", zugrunde, so ergebe sich, dass das nationale Pro-Kopf-Einkommen eines Erwachsenen in den Ländern des Nahen Ostens von weniger als 9.000 Euro im Jahr 1990 auf etwa 10.000 Euro im Jahr 2016 gestiegen sei.

Kaufkraftparität bei drei Viertel des Durchschnittswertes in Europa

Aussagekräftiger wird dies im Vergleich. Für beide Maßgaben, der Kaufkraftparität und des Marktwechselkurses, diagnostizieren die Wirtschaftswissenschaftler, dass sie wenig überraschend hinter dem europäischen Durchschnitt liegen. 1990 lag die geschätzte Kaufkraftparität im Nahen Osten bei etwa ¾ des Durchschnittswertes in Europa; zwischen 2004 und 2016 stieg sie nach einer zwischenzeitlichen Rückgangsphase wieder auf etwa 65 Prozent. Beim Marktwechselkurs zeigen sich noch größere Unterschiede, hier stagnieren die Werte bei 25 bis 30 Prozent der europäischen Vergleichszahlen.

Festzuhalten sei, so Piketty et al., dass die Bewohner der Länder im Nahen Osten einkommensmäßig nicht vom Wachstum profitiert haben, sondern eher im Gegenteil: Der größte Anteil des nationalen Gesamteinkommens sei vom Bevölkerungswachstum absorbiert worden.

Dem ersten Lageüberblick folgen dann die näher ausgeführten Vergleiche. Der Ansatz Pikettys, dem er Pionierrang einräumt - bescheiden ist er nicht -, besteht darin, die Vergleiche der Unterschiede innerhalb der Länder mit dem Vergleich der Unterschiede der Länder untereinander zu einem Aggregat-Großbild zusammenzufügen, das Feststellungen über die Ungleichheit in der gesamten Region Naher Osten treffen lässt. Dies wird dann in einen globalen Vergleich gestellt.