Plebiszite: Nein Danke!

EU-Verträge: Demokratie als Drohkulisse

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Plebiszite sind lästig. Vor allem in Deutschland, aber auch im Rest der Europäischen Union. Pflicht sind sie bei der Einführung eines neuen Grundlagenvertrages – so oder so ähnlich soll die EU-Verfassung demnächst heißen – nur in Irland und Dänemark. Der Rest der EU-Staaten, der sie angekündigt hatte, hat sie nach den gescheiterten Referenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden auf Eis gelegt: Großbritannien, Portugal, Polen und Tschechien. Irland und Dänemark verschoben ihre bereits angekündigten Volksabstimmungen. Nur das traditionell europafreundliche Luxemburg traute sich noch. Und auch dort fiel das Ergebnis schlechter aus als erwartet: In dem reichsten EU-Land stimmten nur 56 Prozent für die EU-Verfassung, immerhin 43 Prozent mit Nein – vor allem in den Industriegebieten im Süden des Kleinstaates.

Während der sogenannten Phase des Nachdenkens, die sich die EU nach den Niederlagen für die Verfassung in Frankreich und den Niederlanden verordnete, wurde in einigen Parlamenten die EU-Verfassung fleißig weiter ratifiziert: Estland, Malta, Zypern und Finnland Aber auch andernorts diente diese Nachdenkphase zu keiner realen Ursachenforschung, sondern das Scheitern wurde als Folge eines Vermittlungsproblems abgetan. Die Bürger in Frankreich und den Niederlanden, so die Lesart, hätten einfach nicht begriffen, dass die EU ihnen vor allem Vorteile bringe (vgl. Das Europa der Bürger).

Die meisten EU-Regierungen, ganz besonders die deutsche, dachten darüber nach, wie die Verfassung, bzw. ihre wesentlichen Elemente, gerettet werden könnten: Ein europäischer Außenminister, der freie Wettbewerb im Dienstleistungssektor, die Konkurrenz der Steuer- und Sozialsysteme in der EU und die Militärmacht Europa. Doch gerade die wirtschaftspolitische Ausrichtung des EU-Verfassungstextes war Gegenstand der Kritik in Frankreich, den Niederlanden und anderen Ländern, deren Bevölkerung eine Abstimmung verwehrt wurde.

In Deutschland engagierte sich das globalisierungskritische Netzwerk Attac, die Friedensbewegung und die Mehrheit der damaligen PDS gegen den Verfassungsvertrag, weil er weitgehende militärische Optionen enthielt, wie den berüchtigten Artikel 41 im Teil I der Verfassung, wonach sich alle Mitgliedsstaaten der EU verpflichten, ihre "militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern".

Mit viel diplomatischem Geschick ist es Angela Merkel nun gelungen, die Bedenken fast aller Mitgliedsstaaten einem sogenannten „Änderungsvertrag“ gegenüber auszuräumen. Der Name „EU-Verfassung“ ist Geschichte, eine gemeinsame Hymne und Fahne auch. Ansonsten bleibt alles weitgehend beim Alten. Nur die polnische Regierung, so scheint es, spielt nicht mit. Aber die Unnachgiebigkeit könnte für Polen finanzielle Folgen haben, deutete am Dienstag Kommissionspräsident Jose Manuel Barosso an. Als größter Empfänger von EU-Transferleistungen ist Polen besonders erpressbar und die Wahrscheinlichkeit gering, dass die Kaczynsiki-Brüder durchhalten.

Bedeutender sind da schon die Bedenken Großbritanniens. Ohne deren militärische Kapazitäten ist eine Weltmacht EU, die mit dem „Änderungsvertrag“ angestrebt wird, nur schwer vorstellbar. Aber den potentiellen Nachfolger des britischen Premierministers, Gordon Brown und seinen konservativen Widersacher, David Cameron, stören neben der Funktion eines „EU-Außenministers“ vor allem der bisher anvisierte rechtlich bindende Charakter der Grundrechtecharta.

Das Volk wird den großen Volksparteien wieder lästig

Sollte die im Teil II des Verfassungsvertrages verankerte Grundrechtecharta rechtlich binden, wollen sie eine Volksabstimmung, die in Großbritannien voraussichtlich scheitern würde. Es gilt als wahrscheinlich, das die britische Regierung mit dieser Drohung die verpflichtende Grundrechtecharta kippen wird. Das wiederum wird die Spitzenfunktionäre der Europäischen Gewerkschaften auf den Plan rufen, die überhaupt nur wegen der Grundrechtecharta die EU-Verfassung unterstützt haben. Am Mittwoch haben mehrere tausend Gewerkschaftsdelegierte in Brüssel angekündigt, gegen jeden neuen EU-Vertrag ohne Grundrechtecharta eine Kampagne zu lancieren.

Und die Mehrheit der Bürger in den fünf größten EU-Staaten will, was Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und andere nicht wollen: Fast siebzig Prozent der Spanier, Deutschen, Briten, Franzosen und Italiener, so fand die britische Financial Times in einer Umfrage heraus, wollen ein Referendum.

Das Volk wird den großen Volksparteien also wieder lästig. Kein Wunder, denn dem gemeinen Bürger hatte die EU seit den gescheiterten Referenden nicht viel mehr zu bieten als warme Worte und geringfügig reduzierte Tarife für Auslandsgespräche mit dem Mobiltelefon. Alternativen zur derzeitigen Verfasstheit der EU – ob mit oder ohne „Verfassung“ - erörtert am kommenden Wochenende ein internationaler Kongress in Hannover, zu dem sich kritische Juristen und Wissenschaftler treffen.