Polen im ideologischen Krieg

Der polnische Vizepremier und Vorsitzende der Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński, dürfte sich mit dem Abtreibungsverbot verspekuliert haben

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Jarosław Kaczyński, der seit dem Wahlsieg der PiS vor fünf Jahren die Partei und die Politik in Polen von einem Hinterzimmer seiner Warschauer Villa aus dirigierte, hatte es bislang immer wieder geschafft, Zerreißproben innerhalb der rechtsnationalen Regierungskoalition abzuwenden. Durch Zugeständnisse gegenüber dem moderaten wie auch dem rechtsklerikalen Teil der Bevölkerung vermochte der "große Stratege", wie ihn seine Gefolgsleute gerne nennen, sogar neue Wählerschichten anzusprechen und die Machtbasis der PiS auszubauen, seit dem 6. Oktober auch in seiner neuen Rolle als Vizepremier.

Mit dem jüngst lancierten Vorschlag eines Tierschutzgesetzes – der unverheiratete und asketisch lebende Kaczyński gilt als großer Tierfreund – hatte er zwar Landwirte, Tierzüchter und die Hälfte der eigenen Parlamentarier vergrämt, konnte dafür aber bei jüngeren, urbanen Schichten punkten. So konnte die PiS bei Umfragen bis vor wenigen Wochen auf eine stabile Unterstützung von etwas über 40 Prozent zählen.

Mit seiner von langer Hand geplanten Aktion – auch was das Timing betrifft – läutete Kaczyński womöglich nun aber das Ende seiner Macht ein. So erteilte er in der vorletzten Woche dem Verfassungsgericht grünes Licht, das ohnehin sehr restriktive Abtreibungsrecht zusätzlich zu verschärfen. Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer schweren Missbildung des Fötus wurden als verfassungswidrig erklärt. Künftig sollen nur mehr Abtreibungen zulässig sein, sofern Lebensgefahr für die Mutter droht, bzw. im Falle einer Schwangerschaft als Folge von Inzest oder Vergewaltigung.

Dieses Urteil fällte das Höchstgericht mitten im Peak der zweiten Corona-Welle. Die Opposition spricht von Höchstmaß an Zynismus und Dummheit und von einem Akt der Staatssabotage.

Dabei löst die PiS ihr Wahlversprechen gegenüber dem radikalen Teil ihres Elektorats ein, allem voran gegenüber den katholischen Bischöfen. Nach Bekanntgabe des Urteils sprachen diese der Regierungspartei ihren tiefsten Dank aus. Auch Papst Franziskus zeigte sich erfreut.

Die Operation verfolgte aber überdies einen anderen Zweck. So geht es dabei auch um die Wiedererlangung der Kontrolle der PiS über ihre beiden Koalitionspartner, denn "Recht und Gerechtigkeit" regiert nicht allein. Zwei kleine Gruppierungen, "Solidarisches Polen" des jakobinischen Justizministers und Generalstaatsanwalts Zbigniew Ziobro, und die Kleinpartei "Verständigung" des gemäßigten Arbeits- und Technologieministers Jarosław Gowin, bilden das Wahlbündnis "Vereinigte Rechte". Schon seit geraumer Zeit brodelt es zwischen den Koalitionspartnern, vor wenigen Wochen drohte der Zerfall.

Für Ziobro ist PiS nicht rechts genug. Zudem will er als neuer Anführer des rechten Lagers Kaczyńskis Nachfolge antreten. Gowin, ehemals Minister in der 2015 abgewählten liberalen Tusk-Regierung, wird dem moderaten Flügel zugerechnet. So war die bisherige Positionierung Kaczyńskis ein labiler Eiertanz zwischen katholischen Fundamentalisten und den moderaten PiS-Anhängern. Obschon der Vorsitzende tendenziell mit der politischen Mitte liebäugelt und gemäßigte Politiker wie den Premierminister Morawiecki protegiert, so will er nach außen seine Koalition als ein Monolith erscheinen lassen.

Der Entscheidung des Verfassungsgerichts folgten Massenproteste, wie sie Polen seit dem Machtantritt der PiS vor fünf Jahren oder gar seit dem Systemwechsel vor 30 Jahren nicht erlebte (Polen im Protestlockdown: "Die Revolution ist eine Frau"). Und das ausgerechnet jetzt, in einer Zeit explodierender Corona-Fälle. Jeden Tag werden in Polen derzeit rund 25.000 Neuinfektionen und über 300 Covid-19-Tode gezählt.

Nachdem Gottesdienste in einigen Kirchen von Protestierenden mit Transparenten gestört wurden, rief Kaczyński seine PiS-Jugendorganisation zum Schutz der Gotteshäuser auf. Dem Aufruf folgten auch Rechtsradikale, die Kirchen umstellten und mit Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen. Nur mit Mühe konnte die Polizei die verfeindeten Lager auseinanderhalten. Mit jedem Tag wächst nun das Protestpotential im ganzen Land. Am vorletzten Freitag gingen allein in Warschau über hunderttausend meist junge Menschen auf die Straßen. Ihnen schlossen sich weitere frustrierte Bürger und Berufsgruppen an, wie etwa Landwirte, Gastronomen, Taxifahrer. Während die Proteste in den Großstädten zumeist von jungen Menschen besucht werden und Happening-Charakter haben, verlaufen die Märsche in Kleinstädten in Stille und Andacht.

Kaczyński tobt und spricht vom Krieg, während die Zustimmungswerte für PiS in den Keller gehen. Die jüngste, von der Tageszeitung Gazeta Wyborcza publizierte Umfrage sieht die Zustimmung der Regierungspartei bei nunmehr 26 Prozent. 70,3 Prozent der befragten Polen sprechen sich bei einer in Auftrag der Zeitung "Rzeczpospolita" gegebenen Umfrage des Instituts IBRIS gegen Verschärfungen im Abtreibungsrecht aus, selbst unter PiS-Wählern sind es 43 Prozent. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren PiS-Abgeordnete die Eröffnung dieser neuen Front durch ihren Parteichef, wo doch alle Kräfte im Staat gegen das Virus mobilisiert werden müssten.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Kaczyńskis Kalkül war, dass das Abtreibungsgesetz angesichts der Covid-bedingten Ausgangsbeschränkungen und einer allgemeinen Angst vor Ansteckungen diesmal auf keinen größeren Widerstand stoßen sollte. Bereits im Oktober 2016 führte eine radikale Gesetzesinitiative, die von einer Gruppe katholisch-fundamentalistischer Abtreibungsgegner im Parlament eingebracht wurde und ein nahezu totales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen und Haftstrafen für Frauen und ausführende Ärzte vorsah, zu einer beispiellosen Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Mehrere hunderttausend schwarzgekleidete Frauen (und Männer) blieben damals ihrer Arbeit fern und demonstrierten in großen und – das war neu – auch in kleineren Städten und Gemeinden. PiS ruderte rasch zurück, der Gesetzesentwurf wurde eingestampft.

Der "Abtreibungskrieg", wie der Konflikt überspitzt in polnischen Medien genannt wird, könnte diesmal zum Wendepunkt werden. Er mobilisiert Menschen, die sich bisher kaum für Politik interessierten, selbst PiS-Wähler, weil er einen Eingriff in ihr Privatleben darstellt. Der Streit um das Verfassungsgericht, um die "Geschichtspolitik", selbst die Flüchtlingsfrage in einem Land ohne eine reale Ausländerproblematik sind zu abstrakte Themen, um Massen zu bewegen. Angriffe auf die Rechtstaatlichkeit und die Gerichtsbarkeit sind für einen geringen Teil der Gesellschaft, jenen mit einem ausgeprägten zivilgesellschaftlichen Bewusstsein, von Belang. Weltanschauliche Fragen hingegen betreffen alle. Dies ist ein fundamentaler Konflikt, weil er die Sphäre der Moral und der Religion tangiert.

Kaczyński ist ein geschickter Taktierer. Er selbst konnte mit dem bisherigen Abtreibungsgesetz, das ohnehin zu den strengsten Europas zählt, bisher gut leben. Seit 1993 sind Schwangerschaftsabbrüche in Polen nur nach Vergewaltigung, Inzest, bei Missbildung des Fötus und bei Gefahr für Gesundheit und Leben der Mutter erlaubt. Diese strenge Regelung hat 2019 zu einer Senkung der legalen Schwangerschaftsabbrüche auf 1.110 geführt, die meisten aufgrund von Schäden am Fötus. Andererseits werden geschätzte 150.000 Eingriffe illegal oder im Ausland durchgeführt. Doch nicht einmal das bisherige restriktive Abtreibungsgesetz wurde eingehalten. In Teilen Ostpolens werden Schwangere, die sich für den legalen Abbruch qualifizieren, regelmäßig von Spitälern abgewiesen, weil sich Ärzte auf die sog. Gewissensklausel berufen, sei es aus Angst vor einem Karriereknick oder aus Überzeugung. Frauen bleiben mit ihrer Verzweiflung allein.

Das irische Szenario

Am Ende könnte die Entscheidung des Verfassungsgerichts der katholischen Kirche Polens einen Bärendienst erwiesen haben. Die Allianz der PiS mit Bischöfen und die offensichtliche Einflussnahme der Kirche auf die Tagespolitik sind mittlerweile einer überwiegenden Mehrheit der Polen ein Dorn im Auge.

In der Generation der über Fünfzigjährigen assoziieren viele die Rolle des Klerus noch mit dem Kampf gegen das kommunistische Regime. Von den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts über die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Zeit der Volksrepublik zwischen 1945 und 1989 übernahm die katholische Kirche die Funktion des Bewahrers der polnischen Kultur und war selbst für Atheisten ein Hort der Freiheit und des Widerstandes. Nach der friedlichen Wende vor 30 Jahren bunkerte sich die Amtskirche in ihrem Wertekonservatismus allerdings ein, trotzte einer Modernisierung, unterdrückte jegliche Debatten, indem sie Kritiker in ihren eigenen Reihen zum Schweigen brachte.

Heute wird sie von einer erzkonservativen Riege alter Männer angeführt, die vor der Realität des Alltags ihre Augen verschließt. Für einen Großteil der jungen Generation, die Religion bestenfalls selektiv praktiziert, etwa anlässlich einer Taufe oder eines Begräbnisses, hat die Kirche jegliche Autorität eingebüßt. Hinzu kommen unzählige Korruptionsfälle und Pädophilie-Skandale, die von den Hierarchen entweder gar nicht oder nur halbherzig angegangen werden.

Der kirchenkritische Spielfilm "Klerus" von Wojciech Smarzowski, der die Korruption, Machtmissbrauch, Pädophilie und Bigotterie der Priester und Bischöfe thematisiert, brachte 2018 rund fünf Millionen Menschen in die Kinos, was den Streifen zum erfolgreichsten polnischen Film dieses Jahrhunderts macht. Es folgten zwei breit diskutierte Dokumentarfilme des Journalisten Tomasz Sekielski zum Thema des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Priester. "Tylko nie mów nikomu" ("Erzähl es bloß keinem") erreichte allein in der ersten Woche über 20 Millionen Klicks auf YouTube, der Folgefilm "Zabawa w chowanego" ("Versteckspiel") brachte weitere sieben Millionen.

Letzten Montag strahlte der Fernsehsender TVN24 eine Dokumentation mit dem Titel "Don Stanislao. Das zweite Gesicht des Kardinals Dziwisz" aus. Darin wird Dziwisz, der ehemalige langjährige Sekretär von Papst Johannes Paul II und Erzbischof von Krakau, mit den Vorwürfen konfrontiert, nicht nur die polnischen pädophilen Priester gedeckt, sondern an der Seite des polnischen Papstes im Vatikan auch internationale Skandale im Zusammenhang mit Kindermissbrauch durch Geistliche, etwa im Fall des amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick oder vom mexikanischen Orden der Legionäre Christi, vertuscht zu haben. Nach diesen letzten Enthüllungen fordern selbst rechtsgerichtete Kommentatoren, wie Tomasz Terlikowski, von den Bischöfen Aufklärung.

Die meisten Rechten sehen in diesen Filmen aber einen Angriff auf das Wesen des Polentums. "Wer auch immer die Hand gegen die Kirche erhebt im Versuch, sie zu zerstören, der erhebt die Hand gegen Polen", tobte Kaczyński nach der Ausstrahlung von "Klerus". Die Kirche sei für ihn der einzige Bewahrer des Wertesystems, der in Polen allgemeingültig sei und die Rolle der Kirche möge auch für Nichtgläubige, sofern sie Patrioten seien, als selbstverständlich zur Kenntnis genommen werden. Es sei eine patriotische Pflicht, die Kirche zu verteidigen, so Kaczyński bei einem PiS-Konvent.

Das sieht offenbar nur eine Minderheit im Land ebenso. Eine rezente Umfrage von United Surveys für den Sender RMF FM und die Zeitung "Dziennik Gazeta Prawna" ergab, dass 65,7 Prozent der Befragten die Rolle der Kirche im öffentlichen Leben negativ bewertet. Die Abkehr von der Institution der katholischen Kirche spiegelt sich in den sinkenden Besucherzahlen wider. 1980 gaben noch 51 Prozent der bekennenden Katholiken an, die Sonntagsmesse zu besuchen, seit 2004 fällt diese Zahl kontinuierlich und liegt gegenwärtig landesweit bei 38 Prozent. In Großstädten wie Warschau, Breslau oder Danzig und im Westen des Landes besucht nur noch ein Viertel der Gläubigen den sonntäglichen Gottesdienst.

Gespaltenes Land

Wie sehr das Land entlang weltanschaulicher Linien polarisiert ist, offenbart das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 12. Juni 2020. Der PiS-nahe amtierende Staatspräsident Andrzej Duda gewann die Wiederwahl gegen seinen Herausforderer, den Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski, mit 51 Prozent nur knapp – der liberale Trzaskowski wurde als Ersatz für eine glücklose Oppositionskandidatin spät ins Rennen geschickt (Wahlen in Polen: Knapper Sieg des nationalkonservativen "Weiter So").

Die PiS ist sich dessen bewusst, dass sie die Hälfte des Wahlvolks, vor allem gebildete, urbane Schichten und auch junge Wähler gegen sich hat. Kaczyński hatte mit der Ernennung des mondän auftretenden Ex-Bankers Mateusz Morawiecki im Dezember 2017 zum Premierminister einen Schritt in Richtung dieser Wählerschichten vollzogen. Es ist aber in erster Linie der erfolgreichen Sozialpolitik zu verdanken, dass Kaczyńskis Partei ihre bisher hohen Zustimmungswerte halten konnte: das Kindergeld "500 plus", das Wohnungsprogramm "Wohnung plus", die Abschaffung der sogenannten "Ramschverträge", die vor allem jungen Menschen lange Zeit zu schaffen machten, da sie dadurch unterversichert und unterbezahlt sich selbst auf dem Arbeitsmarkt überlassen gewesen waren, eine großzügige Anhebung des Mindestlohns und zahlreiche weitere Sozialmaßnahmen, die den meisten Polen eine spürbare Erleichterung in der eigenen Geldbörse mit sich brachten.

Als Wähler sahen sie über die ideologischen Standpunkte der PiS jahrelang großzügig hinweg. Auch makroökonomisch konnte PiS durchaus punkten. Die Steuereintreibungsquote konnte massiv gesteigert werden, die Korruption wurde erfolgreich bekämpft, sogar der Ausstieg aus fossilen Energien gilt mittlerweile als beschlossen und das Wirtschaftswachstum blieb mit 4,5 Prozent in 2019 bis zur Corona-Krise unverändert hoch.

Der Medienkrieg

Diese Erfolge gingen allerdings mit Einschränkung der Medienfreiheit einher. PiS übt eine totale Kontrolle über die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender aus, mit ihrer Erfolgspropaganda konnte sie bis vor kurzem ihre Kritiker und Gegner in die Defensive drängen.

Immer wieder entflammten ideologische und soziale Konflikte, welche allerdings bislang keine Massen mobilisieren konnten. So etwa im Frühjahr dieses Jahres, als in den bekanntesten Radio-Hit-Charts des Landes ein Kaczyński-kritischer Song verboten wurde. Das "Dritte Programm des Polnischen Rundfunks", kurz "Trójka", genießt in Polen Kult-Status. Der Sender prägt seit über 50 Jahren den Musikgeschmack von Generationen, seine Moderatoren sind allseits populär. Der Sender spielte in der Zeit der Volksrepublik westliche Musik und war an der explosionsartigen Entwicklung der polnischen Rockmusik Anfang der Achtziger Jahre maßgeblich beteiligt. Jeden Freitag saßen damals Millionen vor ihren Radiogeräten und nahmen die Hitparaden auf Audiokassetten auf.

Als PiS 2015 an die Macht kam, ersetzte sie Journalisten der staatsnahen Medien durch Propagandisten aus rechtsnationalen und klerikalen Sendern und Zeitungen. "Trójka" blieb lange Zeit von den Säuberungen verschont, man fürchtete um Einschaltquoten und Werbeeinnahmen. So konnte etwa die Radiolegende Wojciech Mann weiterhin kritische Gäste einladen und seine eigene Meinung frei kundtun. Die Musikjournalisten wurden dennoch angefeindet, man unterstellte ihnen Kollaboration mit den Kommunisten, sie hätten vor der Wende die Musik dazu missbraucht, Jugendlichen ein Ventil zu geben, um sie so von Straßenkrawallen fernzuhalten. Immer wieder wurde Mann abgemahnt. Doch erst nachdem seine Ko-Moderatorin entlassen wurde, warf er nach 52 Jahren Dienst beim Sender das Handtuch.

Als am 15. Mai dieses Jahres der Song "Dein Schmerz ist besser als meiner" von den Hörern an die erste Stelle der Trójka-Hitparade gewählt wurde, kam es zum Eklat. Vom Rock-Veteran Kazik Staszewski im Lockdown geschrieben, handelte das Lied von einem Besuch Jarosław Kaczyńskis am Grab seiner Familie, just als Friedhofsbesuche Pandemie-bedingt untersagt waren. Marek Niedzwiecki, Gründer der legendären Hitparade und seit 1982 deren Moderator, wurde der Manipulation und des Betrugs bei Auszählung des Votings bezichtigt. Auf Weisung von oben verschwanden das Lied und die Wertung von der Website des Senders ("Dein Schmerz ist besser als meiner").

Nach einer anschließenden Schmutzkübelkampagne gegen seine Person verließ Niedzwiecki gekränkt den Sender. Selbst in den dunkelsten Zeiten des Kommunismus und des Kriegsrechts hätten ihn die Machthaber bei seiner Musikauswahl nie beeinflusst, sagte er in einem Interview danach. PiS-Politiker sprachen hingegen von einer längst fälligen "Entkommunisierung" des Radiosenders. Die Folge waren Proteste vor dem Sender und das Auftauchen zweier neuer Stationen - "Radio Nowy Swiat" (Neue Welt) und Radio 357 - gegründet und betrieben von Ex-Radiomachern der "Trójka". Dieser Konflikt war selbst einigen PiS-Ministern, die selbst mit der Musik des Senders groß wurden, peinlich und er kam, kurz vor der Präsidentschaftswahl, äußerst ungelegen. Um die Lage zu retten, wurde ein Trójka-Veteran kurzerhand zum Programmdirektor ernannt, man sicherte ihm volle Entscheidungsfreiheit zu. Wenige Tage nach der Wiederwahl Dudas wurde er wieder abgesetzt und die Reichweite des Senders fiel von einst zehn auf knapp drei Prozent.

Die polnische Gesellschaft holt viele der weltanschaulichen Konflikte nach, für die es in der Vergangenheit aufgrund der tiefen politischen und wirtschaftlichen Probleme an Diskussionsraum fehlte. Die von der Geschichte begünstigten Staaten Westeuropas erlebten ihre oftmals gewaltvoll ausgetragenen Sitten-Revolutionen bereits in den 1970-er Jahren, in einer Zeit als Polen unter dem Joch eines Unrechtsregimes litt. Am Ende wird die Abtreibungsdebatte, ähnlich wie im katholischen Irland, ein wichtiger und klärender Schritt hin zur Verwirklichung einer liberalen und säkularen Gesellschaft sein.

Ob die laufenden Proteste zu einer werteliberalen Wende in der polnischen Politik führen werden, hängt davon ab, wie effektiv sich die Wut und das soziale Engagement der jungen Generation in eine Bewegung kanalisieren lassen. Die Opposition ist schwach und zerstritten. Von der wirtschaftsliberalen, aber wertekonservativen Bürgerplattform sind keine bahnbrechenden Reformen zu erwarten, auch sie hatte sich mit der katholischen Kirche in ihrer achtjährigen Regierungszeit bis 2015 weitgehend arrangiert. Die Linke ist nach wie vor unbedeutend und muss um den Einzug ins Parlament bangen.

Die Weigerung der Amtskirche, sich mit ihren Verfehlungen auseinanderzusetzen und ihre notorische Einmischung in die Politik und in das Privatleben der Bürger werden die Säkularisierung der Gesellschaft jedenfalls beschleunigen.