Polens Willkommenskultur: Wird sie halten?

Flüchtlinge in der Nähe des polnischen Grenzbahnhofs Przemyśl Główny. Bild: Pakkin Leung/CC BY 4.0

Migrationspolitik: Krakauer Ökonom rechnet kurzfristig mit bis zu 2.5 Millionen Ukrainer in Polen bei einer Systemkapazität von maximal 750.000 Menschen und warnt vor sozialen Spannungen

Seit der russischen Invasion in der Ukraine in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 sind bereits über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem östlichen Nachbarland in Polen angekommen und die Solidaritätswelle reißt nicht ab.

Binnen weniger Tage haben NGO, Privatpersonen und lokale Verwaltungen ein riesiges Netzwerk an Erstversorgungs- und Aufnahmezentren entlang der polnisch-ukrainischen Grenze aus dem Boden gestampft. Menschen vernetzten sich in Chat-Gruppen, organisieren Unterkünfte, Transport, Lebensmittel und Kleidung für die Ankömmlinge, nehmen mit ihren Pkws unbekannte Familien an der Grenze auf und bringen sie in ihren Wohnungen und Häusern unter.

Polen hat gewissermaßen Glück im Unglück. Schon vor dem Krieg lebten und arbeiteten in Polen legal über 850.000 Ukrainer, Schätzungen zufolge noch einmal so viele illegal. Polen ist für die Ukrainer attraktiv dank der weitaus höheren Löhne und eines allgemein besseren Lebensstandards sowie wegen der kulturellen Nähe und einer für Ukrainer leicht erlernbaren Sprache.

Wenn nun Menschen in Massenunterkünften der grenznahen Städte Przemyśl, Rzeszów, Lublin oder Zamość bzw. in der Hauptstadt Warschau untergebracht werden und weitere unzählige in Privatunterkünften unterkommen, so konnten dank der großen ukrainischen Community die meisten Geflüchteten zunächst bei Verwandten, Freunden oder bei deren polnischen Arbeitgebern Aufnahme finden.

Die Bevölkerung Warschaus ist quasi über Nacht um 17 Prozent angewachsen. Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski erklärte gegenüber der BBC (ab Minute 7:22), dass 97 Prozent dieser 300.000 Neuankömmlinge zunächst bei ihren Verwandten und Freunden untergekommen seien. 30 Prozent davon würden allerdings bald schon eine eigene Unterkunft benötigen. Aktuell stemmen NGO, Privatpersonen und lokale Behörden die gesamte Flüchtlingsbetreuung. Diese wird zumeist improvisiert, was rasch verbessert gehöre.

Nun rechnet man mit weiteren fünf bis sieben Millionen Kriegsflüchtlingen, die über die ukrainisch-polnische Grenze nach Polen gelangen könnten. Das könnte die vorhandenen Kapazitäten sprengen, weswegen der Bürgermeister appelliert, über Verteilung der Menschen nicht nur innerhalb Polens, sondern auch auf andere Staaten Europas zu diskutieren. Es bedürfe eines besser koordinierten und strukturierten Systems der Unterstützung seitens der UNO und der EU.

Trzaskowski weist darauf hin, dass 2015 monatlich 300.000 Flüchtlinge in die EU strömten, während allein in Warschau diese Zahl innerhalb von nur zwei Wochen erreicht wurde. Und er fügt hinzu, dass er weiterhin bereit sei, großzügig zu helfen. So sind nun etwa alle Psychologen der Stadt mit der Betreuung traumatisierter Kriegsflüchtlinge beschäftigt, 4.000 ukrainische Kinder nehmen bereits an Warschauer Schulen am Regelunterricht teil.

Nichtsdestotrotz bedürfe es eines europäischen, bzw. internationalen Verteilungsplans, so Trzaskowski, der auch Großbritannien, das bislang durch bürokratische Hürden negativ auffiel, miteinschließt. Dessen Umsetzung müsse rasch erfolgen, da die Zeit drängt.

Nach wie vor flüchten täglich Tausende traumatisierte Flüchtlinge über die Grenze nach Polen und nach wie vor sind Zivilgesellschaft und die Regierungsstellen bemüht, all diesen Menschen umfassend zu helfen. Dazu wurde auch ein eigenes Gesetz erlassen, das Ukrainern vollen Zugang zum polnischen Gesundheitssystem und zum Arbeitsmarkt gewährt.

Erste Ermüdungserscheinungen…

Doch nach einem Monat Krieg werden erste Ermüdungserscheinungen sichtbar, zunehmend hört man warnende Stimmen. Der Krakauer Ökonom und Experte für öffentliche Politik, Marcin Kędzierski, etwa warnt im Nachrichtenportal gazeta.pl, dass der nationale Enthusiasmus der ersten Wochen sich in wenigen Monaten erschöpfen könnte.

Man dürfe nicht zulassen, die Kosten für die Aufnahme einer so großen Flüchtlingszahl der werktätigen Bevölkerung aufzubürden, was einem Rezept für den Ausbruch des Volkszorns und einer antiukrainischen Stimmung gleichkäme. Dabei gehe es nicht so sehr ums Geld – dieses würden EU und USA gewiss bereitstellen, sondern um die in Polen schwach aufgestellten öffentlichen Dienste.

Kędzierski rechnet kurzfristig mit bis zu 2.5 Millionen Ukrainern in Polen, bei einer Systemkapazität von maximal 750.000 Menschen. Alles darüber hinaus könnte zu sozialen Konflikten führen.

Die hohen Flüchtlingszahlen könnten in erster Linie zu einer Belastung für die bereits in Polen ansässigen Ukrainer werden. Diese seien von allen neuen Staatshilfen ausgeschlossen, was naturgemäß Spannungen innerhalb der ukrainischen Community erzeugen könnte.

Aber auch schlechter gestellte werktätige Polen, die sich Leistungen des privaten Gesundheitssektors nicht leisten können, könnten bald mit Zugangsbeschränkungen und langen Warteschlangen im öffentlichen Gesundheitswesen konfrontiert werden. Die Kriegsflüchtlinge aus dem Osten seien oft in einem schlechten Gesundheitszustand. Zudem seien etwa Kinderärzte bereits vor dem Ausbruch des Krieges am Limit gewesen.

…und alte und neue Feindbilder

Ein weiteres Problemfeld ist der Bildungssektor, der ohnehin seit Jahren kriselt. Noch vor der Flüchtlingskrise litt Polen unter einem Lehrermangel. Nun werden Stimmen besorgter Eltern laut, dass die ukrainischen Kinder oft gegen gängige Kinderkrankheiten unzureichend geimpft seien. Hier appelliert der Experte, rasch Impfkampagnen für die Neuankömmlinge zu implementieren.

Auch werden Mietwohnungen immer knapper und die Mieten steigen, da der Krieg die Inflation weiter anheizt. Die rechtsradikale Partei Konfederacja zündelt bereits. So verkündete sie dieser Tage im Sejm, dem polnischen Parlament, "Hilfe für Ukrainer - ja, Privilegien für Ukrainer - nein."

Neue Feindbilder entstehen. Die Regierung werde diese neue negative Stimmung anprangern, laut Kędzierski, wodurch die gesellschaftliche Spaltung vertieft werde, gekoppelt mit einem Unverständnis für gesellschaftliche Ängste.

Der Experte macht noch eine dritte Kategorie aus, die unter Druck geraten könnte: Die Jungen, die schon in der Pandemie auffallend stark betroffen waren und nun mit noch schlechteren Zukunftsperspektiven konfrontiert sind, wie etwa Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot.

Die Deutschen arbeiten seit nahezu 70 Jahren an ihrer Migrationspolitik und hatten vor sieben Jahren mit 800.000 Neuankömmlingen in ihrem Land dennoch ein großes Problem. Polen, das halb so groß ist wie sein westlicher Nachbar und de facto über gar keine Migrationspolitik verfügt, müsse nun mit einer dreifachen Anzahl an Flüchtlingen fertig werden.

Die bisherige Migrationspolitik war ausschließlich arbeitsmarktorientiert, bar jeglicher Strategie. Auf das Diktat von Unternehmen wurden Hunderttausende ukrainische und asiatische Arbeiter ins Land geholt, ohne sich um deren Integration in die polnische Gesellschaft zu kümmern. Oft blieben sie rechtlos und waren leicht ersetzbar.

Ein polnischer Arbeitgebervertreter regte unlängst an, die Lücken für die in Polen ansässigen und in den Krieg gezogenen Ukrainer rasch mit Weißrussen zu füllen, zudem die Weißrussen sich dadurch gerne vor der Zwangsrekrutierung in die eigene Armee flüchten könnten. Kędzierski fürchtet, dass Arbeitgeber bald schon ihre Kosten reduzieren werden müssen, wodurch auch die Löhne unter Druck geraten würden. Es wird alles immer teurer, also werde man bei Arbeitskräften, vor allem im unteren Lohnsegment sparen wollen.

Kędzierski fürchtet auch ein neues antiukrainisches Klima, worauf der Kreml nur wartet, um es propagandistisch auszuschlachten. So plädiert er für eine strikte Kontrolle des Arbeitsmarktes und für eine effizientere Planung des Zugangs zu den öffentlichen Diensten, allen voran zum Gesundheitswesen.