Polens Willkommenskultur: Wird sie halten?
Seite 2: Gesellschaftliche Polarisierung und die schwierige Geschichte zwischen Polen und der Ukraine
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- Gesellschaftliche Polarisierung und die schwierige Geschichte zwischen Polen und der Ukraine
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Der Politikstratege Tomasz Karoń warnt bereits vor der "Jagd auf Polens Putins". Die größte Oppositionspartei, Donald Tusks Bürgerplattform PO, wirft der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS, vor, mit Putin-Freunden wie Marie Le Pen oder Viktor Orbán zu paktieren, ergo sei Kaczyński wie Putin.
Die von der PiS kontrollierten Staatsmedien wiederum, allen voran der Fernsehsender TVP, lancieren ihrerseits Bilder von Tusk mit Putin, aus dessen Amtsperiode als Ministerpräsident. Der Tenor: Tusk hätte Nord Stream 2 zugelassen und sei daher wie Putin. Vor wenigen Tagen suggerierte eine Überschrift in den Hauptnachrichten des polnischen Staatsfernsehens, "EPP" (die englische Abkürzung für Europäische Volkspartei, der Donald Tusk vorsteht) würde für "Europäische Partei Putins" stehen.
In der gegenwärtigen "Phase der Verliebtheit und Euphorie" vergesse man laut Kędzierski auch einen weiteren wichtigen Aspekt der polnisch-ukrainischen Beziehungen. Die gemeinsame Geschichte beider Völker ist alles andere als einfach, vor allem die nach wie vor unverarbeiteten Ereignisse rund um die Nazi-Periode.
1929 wurde in Wien die ukrainisch-nationalistische "Organisation Ukrainischer Nationalisten", kurz OUN, gegründet, mit dem erklärten Ziel der Loslösung von der Sowjetunion und Eigenstaatlichkeit der Ukraine.
Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion im Jahr 1941 wurde der ukrainische Anführer Stepan Bandera, der mit der Wehrmacht zusammengearbeitet hatte, bald von den Nazis inhaftiert und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, während die Nazi-Besatzung im westukrainischen Galizien und Wolhynien SS-Bataillone ins Leben rief, die unter Einsatz willfähriger Ukrainer, wohlgemerkt strikt unter Wehrmacht- und SS-Kontrolle, bolschewistische Partisanen bekämpfte.
Viele Ukrainer stellten zudem Wachmannschaften für deutsche Konzentrationslager und waren am Holocaust aktiv beteiligt. Ab 1943 ging der militante Flügel der OUN unter dem Namen "Ukrainische Aufständische Armee", kurz UPA, zum Kampf gegen "alle Besatzer", also gegen Deutsche, Sowjets und Polen über.
Die bis in die Gegenwart reichende Glorifizierung der OUN in weiten Teilen der ukrainischen Gesellschaft instrumentalisiert Putin heute für seine Propaganda, wonach die moderne Ukraine von "Neonazis" regiert werde, wohlwissend, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst einer jüdischen Familie abstammt und ein abgeklärtes Verhältnis zu Bandera und OUN hat.
In einem BBC-Interview äußerte Selenskyj Verständnis dafür, dass für einen Teil der Ukrainer Stepan Bandera ein Held sei, einer der für die Freiheit der Ukraine gekämpft habe. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges erhoben nationalistisch gesinnte Ukrainer Ansprüche auf die 1921 Polen zugesprochenen westukrainischen Gebiete.
1943 bis 1944, zur Zeit der Nazi-Besatzung, kam es in der bis 1939 existenten polnischen Woiwodschaft Wolhynien, die nach der deutschen Besatzung in das nazideutsche Reichskommissariat Ukraine eingegliedert wurde, zum Genozid. Schätzungsweise 50.000 bis 60.000 Menschen, laut manchen Historikern sogar mehr, wurden von Kämpfern der deutschkontrollierten UPA ermordet, weitere 200.000 mussten fliehen.
Massakriert wurden überwiegend Polen, aber auch Ukrainer und andere ethnische Gruppen sowie Kriegsflüchtlinge. Bis heute ist für Polen die UPA eine verbrecherische Organisation, die für den Genozid an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien und in Ostgalizien verantwortlich zeichnet.
Gegen Ende des Krieges und auch noch danach ließen die Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern nicht ab. Noch bis zum Jahr 1947 unterstützte der sowjetische NKWD mit seinen paramilitärischen "Vernichtungsbataillonen" die junge Volksrepublik Polen im Kampf gegen die "ukrainisch-nationalistischen Banden".
Bemerkenswerterweise spielt dieses historische Motiv aktuell kaum eine Rolle im öffentlichen Diskurs und im zivilgesellschaftlichen Engagement der Polen für die Ukrainer. Viel mehr werden die Gemeinsamkeiten betont, etwa der gemeinsame Feind der Polen und Ukrainer – Putins Russland.
Marcin Kędzierski macht dennoch einige Bruchstellen aus. Als der Ökonom am ersten Kriegstag aus Solidarität mit dem Nachbarvolk neben der polnischen eine ukrainische Fahne am Amtshaus seiner Dorfgemeinde hissen wollte, sagte jemand: "Na schön, hissen wir die Fahne, jetzt wo Krieg herrscht gegen unseren gemeinsamen Feind. Doch denkt an Wolhynien, wie sie uns ermordeten."
Kędzierski hat einige Vorschläge, wie sich die auf die polnische Gesellschaft zukommenden Spannungen abbauen ließen, etwa die Idee, Mütter mit Kindern an alleinstehende Menschen am Land zu vermitteln, doch er bleibt skeptisch. Schließlich hat es der Staat auch während der Pandemie nicht zustande gebracht, einen Krisenstab zu berufen, das Innenressort habe keine Kontrolle über die Länder und Wojewoden, diese wiederum über die Gemeinden.
Verklärung des Kriegs
In eine andere Kerbe schlägt Żaneta Gotowalska im Internetportal natemat.pl. In ihrem Text mit dem Titel "Stopp der Verklärung der Flüchtlinge und des Krieges" (Stop romantyzowaniu uchodźców i wojn - naTemat.pl) appelliert sie an die beherzten Helfer, nicht zu vergessen, dass man in dieser tragischen Situation nicht bloß die eigene idealisierte "Hilfsschwärmerei" realisieren, sondern auf die Bedürfnisse der vom Krieg traumatisierten Flüchtlinge eingehen solle.
Man kenne in Polen den Krieg aus Erzählungen der eigenen Familie, vor allem aber aus Hollywood-Filmen. Dieser Zugang verzerre den Krieg ins Erhabene, Heldenhafte. Die Helfer erwarten, dass Menschen, die vor dem Krieg flüchten, ihnen zum ewigen Dank verpflichtet seien. Polen würden den Krieg und die Geflüchteten zu sehr verklären und idealisieren, so ihr Fazit.
Im Internet kursieren Kommentare von Helfern, die oft sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Während die meisten Geflüchteten die Hilfe dankend annehmen und sich bemühen, niemandem zur Last zu fallen und rasch ein selbständiges Leben zu beginnen, berichtet im Danziger Regionalportal trojmiasto.pl ein Sporttrainer von einer 70-jährigen Großmutter mit ihrem vierjährigen Enkelkind, die er bei sich aufgenommen hat.
Die alte Frau sitze nun den ganzen Tag auf dem Bett, weine und bete, ohne sich um den Enkel zu kümmern. Der Mann und seine Frau scheinen zu verzweifeln. Andere beschweren sich, dass sie Flüchtlinge mit einem selbst zubereiteten Fleischgericht verköstigen wollten, diese hätten, mit dem Hinweis Vegetarier zu sein, jedoch dankend abgelehnt (Różne oblicza goszczenia Ukraińców - trojmiasto.pl)
Die Erwartungshaltung, wie ein Flüchtling "zu sein habe", zerbricht an der Realität des breiten Spektrums menschlicher Psyche. Die Geflüchteten seien "so wie wir, zudem durch die Kriegserlebnisse zutiefst traumatisiert. So kann das Ergebnis unserer Bemühungen ein völlig anders sein, als wir es erwarten", schließt Gotowalska ihre Reflexion.