Politik in den Zeiten der Deglobalisierung
Seite 3: Das hegemoniale Projekt stößt an seine Grenzen
- Politik in den Zeiten der Deglobalisierung
- Adidas und die Defragmentierung der Produktion
- Das hegemoniale Projekt stößt an seine Grenzen
- Deglobalisierung - Schreckgespenst oder Utopie?
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Es war ein zentrales Versprechen in der Ära der Globalisierung, dass mehr und mehr Länder des globalen Südens durch ihre Integration in den Weltmarkt die industrielle und soziale Entwicklung des Nordens nachholen können. Die entsprechenden Entwicklungsstrategien bauen allesamt darauf, dass die wachsende Bevölkerung der armen ländlichen Regionen von den expandierenden Industrien in den Städten aufgesogen wird.
Nicht selten geht diese Politik mit einer systematischen Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und einer Förderung des Agrobusiness einher. Durch wirtschaftlichen Ruin oder Landgrabbing verlieren mehr und mehr Bauern ihr Land und ihre Lebensperspektive, lokale Kulturen, die Jahrhunderte lang funktioniert haben, gehen unwiederbringlich verloren. Allein in einem Land wie Indien werden in den kommenden Jahren Millionen Menschen aus ländlichen Regionen in den Städten ihr Auskommen suchen.
Was geschieht, wenn die industrielle Entwicklung hier ins Stocken gerät? Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Er beobachtet schon seit längerem eine "verfrühte Deindustrialisierung" in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Folge ist, dass sich in den Städten andere "Wachstumssektoren" entwickeln: der informelle Sektor, der Bereich kleiner Dienstleistungen und die organisierte Kriminalität.
Sie bieten ideale Grundlagen für korrupte Herrschaftstechniken, für Populismus, autoritäre, paternalistische Systeme und fragile Staaten, in denen sich Gewalt und mafiose Strukturen ausbreiten.
Rodrik zeigt in seiner Studie, dass der Anteil der industriellen Produktion an der Gesamtwirtschaft in den meisten Entwicklungsländern bereits seit Ende der 1980er Jahre zurückgeht. Besonders stark sind jene Länder betroffen, denen es in den 1950er bis 1970er Jahren mit Hilfe protektionistischer Maßnahmen gelungen war, eigene Industrien aufzubauen, wie zum Beispiel die lateinamerikanischen Schwellenländer. Während der Schuldenkrise der 1980er Jahre wurden diese Länder vom IWF und den Gläubigerstaaten gezwungen, ihre protektionistischen Schutzwälle abzubauen. Seitdem schrumpft hier der Anteil der industriellen Produktion, weil ihre nationalen Industrien sich in der globalen Konkurrenz nur schwer behaupten können.
China ist hier eine der großen Ausnahmen. Von einer verfrühten Deindustrialisierung ist das Land weit entfernt. Das liegt unter anderem daran, dass die chinesische Regierung stets die Kontrolle darüber behalten hat, welche Wirtschaftsbereiche in welchem Ausmaß in die Weltmärkte integriert werden.
Nach Jahrzehnten einer exportgetriebenen Industrialisierung schwenkte China bereits vor Jahren auf eine stärkere Orientierung auf den Binnenmarkt um. Offenbar mit Erfolg. Nach Berechnungen des IWF ist der Anteil importierter Güter in chinesischen Produkten von 60 Prozent in den 1990er Jahren auf mittlerweile 35 Prozent gefallen. China geht insofern schon seinen eigenen Weg der Deglobalisierung und trägt damit auch zum globalen Trend der Deglobalisierung bei.
Auf der weltwirtschaftlichen Ebene zeichnet sich eine epochale Wende ab. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden Milliarden Menschen weltweit als Arbeitskräfte und Konsumenten in die Weltwirtschaft integriert. Das war der Treibstoff für eine lange Expansionsphase des globalen Kapitalismus. Heute stehen wir offenbar am Anfang des umgekehrten Prozesses: Viele Menschen, vielleicht ganze Länder, werden im Zuge des technologischen Wandels vom globalen Kapitalismus wieder ausgespuckt, weil ihre billige Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird. Die Finanzkrise von 2008 entpuppt sich dabei immer deutlicher als historischer Wendepunkt.
Das hegemoniale Projekt der fortschreitenden Integration möglichst vieler Länder in den Weltmarkt stößt damit an seine Grenzen. Gleichzeitig verschärft sich der Streit über die globale Wirtschaftsordnung. Wenn die industrielle Entwicklung des Südens ins Stocken gerät, dann ist eigentlich zu erwarten, dass sich hier die Absetzbewegung verstärkt, die bereits die Doha-Runde in der WTO scheitern ließ. Aber so weit ist es offenbar noch nicht.
Vorerst erleben wir eine Absetzbewegung von unerwarteter Seite. Ausgerechnet die (Noch-)Führungsmacht der westlichen Industrieländer beginnt, sich aus ihrem hegemonialen Projekt zurückzuziehen. Statt die Politik der Marktöffnung durch multilaterale Freihandelsabkommen weiterzuverfolgen, setzt die US-Regierung auf einen wirtschaftlichen Nationalismus. Trump kündigte das TPP-Abkommen mit den pazifischen Staaten; an der Weiterverhandlung des TTIP-Vertrags mit der EU hat er nicht das geringste Interesse. Stattdessen lässt er seine Berater über protektionistische Maßnahmen nachdenken, die geeignet sein sollen, Produktionsstätten in die USA "zurückzuholen".
Im Konflikt um die globale Wirtschaftsordnung bilden sich nun zwei Lager. Die eine Seite, mit ihrem markanten Vertreter Donald Trump, setzt auf eine offen nationalistische Politik mit dem Ziel, vom Kuchen der globalen Wertschöpfung ein möglichst großes Stück zu kontrollieren und für die Mehrung des nationalen Wohlstandes einzusetzen. Dieser nationale Wohlstand soll exklusiv dem eigenen Staatsvolk zugutekommen. Man schottet sich deshalb sowohl gegen unerwünschte Importe, als auch gegen ökonomisch nicht verwertbare Zuwanderung ab.
Die neue Logik hat sich bereits im offiziellen Kommuniqué des G20-Finanzministertreffens im März dieses Jahres niedergeschlagen. Anstelle der bisher üblichen Formel, "allen Formen des Protektionismus zu widerstehen" hat der US-Finanzminister die Formulierung durchgesetzt: "Wir arbeiten an der Stärkung des Beitrags des Handels zu unseren Ökonomien". Der globale Handel soll also nicht mehr integrieren und allen Beteiligten Entwicklungschancen bieten, sondern nur noch die nationale Ökonomie stärken.
Von den Vertretern des Freihandels wird der Konflikt mit dem aufkommenden Protektionismus so geführt, als ginge es ihnen um das Wohl des Ganzen, um die Zukunft funktionierender weltwirtschaftlicher Beziehungen. Tatsächlich liegt der Unterschied zwischen Freihändlern und Protektionisten in einem ziemlich banalen Sachverhalt begründet: dem Zustand der Handelsbilanz.
Länder mit großen, strukturellen Handelbilanzdefiziten, wie die USA und Großbritannien, wollen eine stärkere Kontrolle über ihre Handelsbeziehungen und setzen auf bilaterale Handelsverträge, um ihre Industrien wieder aufbauen und strukturschwache Regionen wiederbeleben zu können.
Auf der anderen Seite stehen - besonders exponiert - Deutschland und China, mit ihren hohen, strukturellen Exportüberschüssen und verteidigen den Freihandel im Interesse ihrer nationalen Ökonomie. Während China sich mittlerweile stärker am Binnenmarkt orientiert und bereits daran arbeitet, seine Exportabhängigkeit abzubauen, setzt die deutsche Regierung unverdrossen auf eine Politik der wirtschaftlichen Ungleichgewichte, innerhalb und außerhalb Europas.
Protektionismus und Freihandel entpuppten sich hier als unterschiedliche Spielarten in der Verteidigung nationaler Wirtschaftsinteressen. Keine der beiden Seiten bietet Lösungen für die Probleme der globalisierten Ökonomie und die aktuelle epochale Wende der Weltwirtschaft.