Polizei räumt Wiener Lobau-Besetzung: Fakten schaffen für ein gescheitertes Projekt
In den frühen Morgenstunden haben Polizeikräfte mit der Räumung des Protestcamps gegen den Bau des Lobautunnels und der "Stadtstraße" begonnen
Fridays for Future, Global 2000 und Greenpeace sind entsetzt, aber auch die Katholische Aktion der Erzdiözese Wien zeigt sich "empört" über die Räumung des Protestcamps gegen den Bau des Lobautunnels. Es darf also von einer breiten gesellschaftlichen Front gesprochen werden, die die sozialdemokratisch-liberale Stadtregierung Wiens da gegen sich aufbringt.
Die harten Bandagen hatten sich abgezeichnet, nachdem letztes Jahr die zuständige Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) den teils minderjährigen Aktivistinnen und Aktivisten anwaltliche Klagedrohungen hatte zukommen lassen. Dass einige der jungen Aktiven Mitglieder der Jugendorganisationen eben jener Partei sind, der auch die Stadträtin angehört, durfte als unschönes Detail verbucht werden – Sima sprach zwischenzeitlich von einem Fehler ihres Anwalts und von "ehrlichem Bedauern".
Schere zwischen Lob junger engagierter Leute und realer Politik
Von diesen versöhnlichen Tönen war am Dienstagmorgen aber nichts mehr zu spüren. Polizeikräfte begannen mit der Räumung des Protestcamps auf der geplanten Baustelle der Stadtstraße, nachdem ein gutes Dutzend Anwesender sich geweigert hatte, den Ort zu verlassen. Vor dieser morgendlichen Aufforderung sei die Räumung nicht angekündigt worden, betonte die Aktivistin Lena Schilling vor Ort. Stattdessen sei eine "friedliche Lösung" versprochen worden.
Zunächst gab es sieben Festnahmen. Ein Polizeisprecher sagte der Nachrichtenagentur APA, zwei Aktivisten hätten sich mit "technischen Hilfsmitteln" angekettet. Um Solidaritätsaktionen an Ort und Stelle zu verhindern, wurde der Bereich zunächst großräumig abgesperrt. Öffentliche Verkehrsmittel rund um die Baustelle fielen aus und die nahegelegene U-Bahn-Station wurde gesperrt, nachdem mit der Besetzung sympathisierende Gruppen über verschiedene Kanäle mobilisiert hatten. In der Nähe des Camps wurde ein Bagger besetzt.
Die Polizei begann unter lauten Protestrufen wie "Lobau bleibt!" mit der Demontage des Klimacamps. Aktive, die mit Fahrrad unterwegs zu einer angemeldeten Kundgebung waren, wurden auf Umwege geleitet. Hunderte hatten sich trotz erschwerter Anreise versammelt.
Erst "Klimafahrplan", dann Fortschreibung veralteter Projekte?
Die Aktiven der Umwelt- und Klimabewegung werfen Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) vor, nur wenige Tage nach der Präsentation seines "Klimafahrplans" mit der Wirtschaftskammer die Fortsetzung des Autobahnbaus beschlossen zu haben. Ludwig wolle die Stadtautobahn durchsetzen, um Fakten für den Bau der Lobau-Autobahn zu schaffen.
Klar ist: Eine große Schere klafft auseinander zwischen den allseitigen Bekundungen, wie wichtig das Engagement junger Menschen im Allgemeinen sei und wie wichtig der Einsatz für die Umwelt im Besonderen und dem harten Durchgreifen, sobald wirtschaftliche Interessen gefährdet sind.
Unklar ist, was die Stadtregierung überhaupt zu gewinnen trachtet. Nach einer Prüfung durch die grüne Umweltministerin wurde dem Lobau-Tunnelprojekt im vergangenen Jahr die Genehmigung entzogen. Der Bau weiterer Stadtstraßen in Wien ist somit aus vielen Gründen sehr umstritten.
Warum überhaupt dieser Streit?
Große Infrastrukturprojekte haben meist einen quälend langen Entwicklungsvorlauf. Zu Projektbeginn sollen Probleme gelöst werden, die zum Zeitpunkt der Projektausführung in entweder nicht mehr in dieser Form bestehen oder durch inzwischen gravierendere Probleme wie den menschengemachte Klimawandel überlagert werden.
Vermutlich wollte die einst gut funktionierende großkoalitionäre Achse aus dem damaligen Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) und Niederösterreichischem Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) mit der Untertunnelung des Naturschutzgebietes vor allem das niederösterreichische Verkehrsproblem lösen.
Ein großer Teil der Arbeitnehmerinnen Niederösterreichs arbeitet in Wien. Der Weg aus dem Speckgürtel in die Metropole wird fast immer mit dem Auto zurückgelegt. Meist mangels Perspektiven. Auf ein echtes gemeinsames Nahverkehrsnetz konnten sich die beiden Bundesländer nie einigen, aber zumindest beim Tunnelbau fanden die Landesväter zusammen.
Das Gentlemens-Agreement der längst in Pension befindlich Politiker ist nun Altlast der neuen Regierung. Sie kann ohne Gesichtsverlust wohl nicht mehr zurück, es wurden schließlich bereits enorme Summen in das Projekt investiert.
Straßen erzeugen zwar Wachstum, aber vor allem Zuwachs an Verkehrsaufkommen, den eine Stadt, die gern Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit plakatiert, so nicht wollen kann. Auch ist die Frage, ob die transeuropäischen Verkehrszuwächse, die man zwar um Wien herumleiten will, dabei aber Wien zugleich als europäischen Verkehrsknoten bewahren möchte, mit der durch das Coronavirus lädierten "Just-in-time"-Produktion überhaupt noch gebraucht werden.
Gut möglich, dass wirtschaftliche Schrumpfung, Digitalisierung und die nötige Umstellung auf mehr "Just-in-case"-Produktion ohnehin das Verkehrsaufkommen vermindern werden. Wer die von Bürgermeister Ludwig versprochenen Komfortzugewinne für die Wienerinnen und Wiener umsetzen will, braucht dafür vielleicht gar keinen mit Asphalt versiegelten Boden mehr.
Jetzt hat die Stadtpolitik ihre "hässlichen Bilder"
Ganz abseits der unversöhnlich zerstrittenen Lage könnte man sich diese Frage einmal nüchtern stellen. Dafür ist es nun aber zu spät, denn es zeigt ein gesellschaftspolitisches Scheitern, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Sobald ein Streit derart eskaliert, dass es Gewinner und Verlierer gibt, hat die Politik zu wenig vorausschauend agiert. Warum gab es nicht frühzeitig "Runde Tische" und echte Bürgerbeteiligung?
Die Aktivisten vor Ort fühlten sich bei den Gesprächsangeboten der Stadt zumindest nicht gehört und setzen ihrerseits auf Eskalation durch die Besetzungen und Proteste vor dem Stadtparlament, womit sie den Bürgermeister in die Rolle des energisch sich durchsetzenden "Stadtvaters" drängen.
Jetzt hat die Stadtpolitik die "hässlichen Bilder". Hunderte Polizisten, die ihre Mannschaftswagen in langer Schlange aufgestellt haben, vertreiben die mit Fahrrädern herbeigeeilten Jugendlichen. Bautrupps walzen mit Baggern die improvisierte Protestarchitektur nieder. Das ist alles ein bisschen 1970er-Jahre.