Poor Boy Walker
The American Taliban, Teil 2: Back in the USA
John Walker Lindh, der "American Taliban", ist einer, der in die wilde, wilde Ferne auszog und jetzt in der Heimat das Fürchten lernt. Richter W. Curtis Sewell verlas in einem Bundesgericht in Alexandria (Virginia) die zehn schwer wiegenden Anklagepunkte, die dem zwanzigjährigen Kalifornier von der "Grand Jury" präsentiert wurden. Die Vorwürfe beinhalten im Wesentlichen, dass der Bergkämpfer aus der freien Welt mit Usama bin Ladins Terror-Netzwerk al-Qaida kooperierte und sich mit den Taliban verschwor, Amerikaner in Afghanistan zu töten. Auch die Verschwörung mit der in Pakistan ansässigen militanten Gruppe Harakat ul-Mujahideen (HUM), die in Kaschmir kämpft, kommt noch hinzu. In der detaillierten Anklage vergaß die Grand Jury auch nicht, dem ungewöhnlichen Kombattanten vorzuwerfen, er habe Feuerwaffen und mindestens zwei Granaten mit sich geführt. Nur was er damit wohl angestellt haben mag, entzieht sich offensichtlich bisher der Kenntnis der Ankläger.
Der größte Lebensführungsirrtum von Poor Boy Walker dürfte darin bestanden haben, sich überhaupt den Mächten des Bösen angeschlossen zu haben. Er soll selbst Usama bin Ladin, den personifizierten Schrecken der zivilisierten Menschheit, getroffen haben. Das ist mindestens so verdächtig wie der Umstand, dass Walker Boy Zutritt zum Lager Faruk nahe bei Kandahar gehabt haben soll. Dort aber war eine Brutstätte des Terrorismus. Einer oder mehrere der September-Terroristen sollen hier ihr schändliches Mordhandwerk erlernt haben. Angeblich wurde Lindh von seinen unheimlichen Gastgebern vor die Wahl zwischen einer veritablen Terroristenausbildung oder dem Kampf gegen die Nordallianz gestellt. Der juvenile Kämpfer aus der Heimat des Erzfeinds entschied sich für den Kampf. Die Entscheidung war richtig, weil er so schließlich mit dem Leben davon gekommen ist.
Die Verteidigung konterte die Anklage aber mit der Leidensgeschichte des Irrläufers, der nach seiner Gefangennahme im November letzten Jahres den Krieg in seinen hässlichsten Varianten kennen lernte und nur knapp dem Tode entronnen sei. Der Kreuzweg begann nach George C. Harris, einem von diversen Anwälten Lindhs, mit einem 50-Meilen Treck durch die unwegsamen Berge Afghanistans bei katastrophaler Unterversorgung mit Nahrung und Wasser. Lindh sei während eines Gefangenenaufstands in der Festung von Qala Jangi bei Masar-i-Scharif knapp dem Tode entronnen. Die Anwälte erklärten, ihr Klient sei mit anderen Gefangenen in einem feuchten Kellerverließ von den Truppen des Generals Abdul Rashid Dostum fest gehalten worden, die während der Revolte Granaten und Raketen auf die Gefangenen geschossen hätten. Mit anderen Gefangenen hatte er sich in einen Tunnel geflüchtet, in den die Angreifer zuerst geschüttet und dann angezündet und zuletzt geflutet hatten. Walker war unter denjenigen, die lebend aus der Falle wieder herauskamen. Viel besser sei es ihm danach auch nicht in amerikanischer Gefangenschaft ergangen. Seine amerikanischen Landsleute hätten Lindh auf einen Streckbett festgebunden und in einem fensterlosen Metall-Container bei schlechter Ernährung und ohne medizinische Betreuung fest gehalten.
Die Verteidiger des amerikanischen Taliban hofften mit dieser Darstellung darauf, ihr Mandant würde auf Kaution frei gelassen und der Obhut seines Vaters übergeben. Aber dieser Optimismus zerschlug sich bald. Amerika nimmt das verirrte Schaf nicht biblisch gnädig als verlorenen Sohn wieder auf, sondern präsentiert ihm jetzt die kostspielige Rechnung für den Vaterlandsverrrat. Die Bundesankläger beantragten, Lindh nicht auf Kaution freizulassen. Haftrichter Sewell sah es genauso. Lindh habe im Blick auf die Straferwartung jeden Grund, aus der Haft der Bundesbehörden zu fliehen. Die Behauptungen der Verteidigung, ihr Mandant sei ein loyaler Amerikaner, seien durch die Fakten erdrückend widerlegt. In der Anklageschrift ist von "Feindseligkeit gegenüber seinem Land" die Rede und obwohl das bisher kaum als Straftatbestand ausreicht, wird Lindh jetzt zum Beweis dieser Ungeheuerlichkeit mit einigen freimütigen Email-Botschaften konfrontiert, die er seiner Mutter schickte. Harter Stoff in Zeiten wie diesen, um das patriotisch erregte Amerika mächtig zu provozieren.
Im Februar 2000 schlug er seiner Mutter vor, nach England auszuwandern: "Ich verstehe Deine Bindung an Amerika nicht. Was hat Amerika eigentlich je für irgendwen getan?" Im Juni wartete der muslimische Nachwuchskämpfer mit seiner Version der Golfkriegsursachen auf. Die USA hätten den Golfkrieg angezettelt, indem Saddam Hussein maßgeblich von Amerika ermutigt worden sei, in Kuwait zu einzufallen. Auch seine originelle Version von den Bombardements auf die US-Botschaften in Afrika gab der Nachwuchskämpfer zum Besten. Die sähen ganz danach aus, als seien sie von der amerikanischen Regierung selbst und nicht von Muslimen durchgeführt worden. Die schwerste patriotische Verfehlung stellt aber die von den Anklägern zitierte Email-Aussage dar, er sei froh, dass George W. Bush nicht sein neuer Präsident wäre. Gott, der Gerechte! Einige Zeit nach diesem blasphemischen Angriff auf seinen mächtigen Namensvetter G. Walker Bush beendete der kleine Walker die Kommunikation mit seiner Familie.
Justizminister John Ashcroft, dem inzwischen unzulässige Verfahrensbeeinflussung vorgeworfen wird, bringt dem militanten Konvertiten keine Sympathie entgegen. Die Vereinigten Staaten seien ein Land, das großen Wert auf religiöse Toleranz, Demokratie und Gleichheit zwischen Mann und Frau lege. J.W.Lindh hätte sich auf eigene Rechnung mit Terroristen verbündet, die diese Werte verwerfen. Nach Ashcroft ist allein entscheidend, dass er diese fatale Wahl getroffen habe, auch wenn seine Motivation für diesen Schritt möglicherweise nie völlig aufgeklärt werden können. Jugendliche Sturm- und Drangzeiten sind ohnehin in Amerika, das Minderjährige wie Erwachsene abstraft, kein tauglicher Exkulpationsgrund. Immerhin hat Präsident George Walker Bush dekretiert, dass Lindh vor einem ordentlichen Gericht für seine Taten im Afghanistan-Krieg zur Rechenschaft gezogen würde. Die praktische Schnelljustiz durch ein Militärtribunal, das für Nicht-US-Krieger zuständig ist, bleibt ihm also erspart.
Lindhs Anwälte erkennen allerdings überhaupt keine Schuld. Sie mahnten die fehlenden Beweismittel an, dass der ungewöhnliche Irrläufer aus dem freien Westen tatsächlich in gewaltsamen Kampfhandlungen verwickelt gewesen sei. Nach Verteidiger Brosnahan habe Lindh geglaubt, er habe gegen die Nordallianz und nicht gegen die USA gekämpft. Er sei nie in spezifisch terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen. Viel nützen werden dem Irrläufer diese Argumente nicht - zum wenigsten in einer national erregten Zeit, in der die Feinde Amerikas ohnehin unisono der Terrorismusverdacht trifft. Die Anklage erkennt im Taliban der dritten Art einen überzeugten Kämpfer, der selbst nach den Anschlägen in Amerika bei den Taliban geblieben sei, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gewusst haben müsse, wer die Urheber dieses Verbrechens gewesen seien.
Dieses gefährliche Wissen um seine Überzeugungstäterschaft resultiert aus "Interviews" des FBI mit Lindh, die den Anwälten zufolge unter Zwang zu Stande gekommen seien, ohne ihm je das Recht einzuräumen, einen Anwalt beizuziehen. Auch das sieht der Vertreter des Rechtsstaats Ashcroft fundamental anders. Lindh habe freiwillig auf die Fragen geantwortet und zudem ausdrücklich eine "Vereinbarung" unterzeichnet, dass er auf sein Recht verzichte, während der Interviews einen Rechtsanwalt beizuziehen. So muss es sicher gewesen sein, da Anwälte ohnehin nur die Offensichtlichkeiten verunklart hätten, die doch dem Dümmsten schon auf Anhieb einleuchten.
Allein sicher ist, dass die Anklagepunkte gegen Lindh nicht reichen, um die Todesstrafe zu verhängen. Immerhin könnte die höchste Gesamtstrafe dem wilden Schaf, in der paradoxen Sprache der Strafjustiz formuliert, drei Mal lebenslänglich nebst weiteren langjährigen Gefängnisstrafen einbringen. Der Kämpfer auf den Spuren von Rambo hat bislang kein Verteidigungsgesuch vorgelegt. Allein sein Vater, Frank Lindh, erklärte, sein Sohn sei unschuldig.
Nüchtern betrachtet erscheint die Geschichte des "American Taliban" als eine Mischung aus religiöser Verirrung, Fernweh, Rambo-Kampf und Widerwillen gegen den allein selig machenden "american way of life". Jung-Walker, ein im Übrigen unauffälliges Kind einer amerikanischen Mittelklassefamilie ohne Collegeabschluss, war als Teenager zum Muslimen konvertiert. Seine Eltern vermuten, dass die Lektüre einer Autobiografie von Black Panther Malcolm X für den Sechszehnjährigen der Auslöser für seinen Schritt gewesen sei, sich zum Islam bekehren zu lassen. Lindh studierte fortan den Koran, nannte sich Sulayman and trug eine lange weiße Robe nebst Turban. Selbst seine Kollektion von Hip Hop- und Rap CDs vernichtete er. Das untermauert wohl auch, warum der "American Taliban" nach Auffassung seines Vater einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei.
Inzwischen sieht Lindh wieder politisch korrekt aus. Der Robinson-Look mit fundamentalistischen Haarwuchs und Bart, der die Medien der freien Welt faszinierte, ist einem anständigen Kurzhaarschnitt gewichen. Zu spät! Der Ankläger Randy Bellows erfasste John Lindhs fatale Neigung zum Terrorismus fast literarisch: "A committed terrorist who not only talked the talk, but walked the walk.'' Die Mutter des Terrorkids, Marilyn Walker, versteht die Welt nicht mehr: "This is a kid who would freeze from fear... totally not streetwise." Dass er je in Freiheit belegen kann, nun überlebensfähiger und weltklüger geworden zu sein, ist zweifelhaft.