Post-Demokratie im 21. Jahrhundert
Seit einem Jahr schickt die Online-Aktionsplattform Campact politischen Entscheidern Bürgerproteste auf den Rechner
Einer besonderen Form der Bürgernähe sind seit einiger Zeit Bundestagsabgeordnete, EU-Parlamentarier und Regierungsvertreter ausgesetzt. Ihre E-Mail-Accounts werden zum Einfallstor für den organisierten Bürgerprotest. Die Idee ist nicht ganz neu, wird aber seit einem Jahr in Deutschland von der Initiative Campact professionell umgesetzt. Sie initiiert mit wechselnden Kooperationspartnern politische Kampagnen, bündelt den Unmut des Wahlvolks und verleiht ihm dadurch Gewicht. Berühmtes Vorbild ist die Initiative MoveOn, die seit ihrer Gründung 1998 zum einflussreichen Akteur wurde und deren Eingriffe in die US-amerikanische Politik große Beachtung finden (vgl. Die Rache der fliegenden Toaster). Hierzulande hält sich die Beteiligung noch in Grenzen, trotzdem nehmen die Abgeordneten die warnenden Töne aus ihrem digitalen Postfach erstaunlich ernst.
In den vergangenen zwölf Monaten wurden insgesamt vier Kampagnen zu unterschiedlichen Themen gestartet: zum Stop der geplanten EU- Richtlinie für Softwarepatente, zur Offenlegung der Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten und neuerdings zur Beibehaltung des Atomausstiegs sowie zur Rücknahme der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Die Anschubfinanzierung für Campact kam aus dem Umfeld der Bewegungsstiftung, die seit einigen Jahren Gruppen und Organisationen der sozialen Bewegung finanziell unterstützt (Gehören Online-Demos zu den Bürgerrechten). In Zukunft muss die Finanzierung auf eigene Beine gestellt werden, auch da zeigen sich große Unterschiede zu MoveOn, die von 3,3 Millionen Mitgliedern mit mehreren Millionen Dollar jährlich versorgt werden. Während Campact auf Information und Einflussnahme bei Abgeordneten setzt, hat sich der große Bruder aus Amerika längst zu einer mächtigen politischen Organisation entwickelt, deren Anti-Bush-Kampagne für viel Aufmerksamkeit sorgte. „Im Gegensatz zu MoveOn, die sich im Wahlkampf mit den Demokraten verbunden haben, haben wir keine parteipolitische Verortung und schließen die Zusammenarbeit mit einer Partei auch aus“, so Campact-Sprecher Christoph Bautz.
Welche Themen bei Campact auf die Agenda gesetzt werden, entscheiden die fünf Organisatoren selbstverantwortlich, sie erhalten jedoch Unterstützung von einem illustren Beraterkreis. Inhaltliches Know-how kommt dabei unter anderem von den Attac-nahen Politikwissenschaftlern Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf und Claus Leggewie, der BUND-Vorsitzenden Angelika Zahrnt oder auch dem Vorstand des Bundesverbands der Verbraucherberatungen, Edda Müller. So weit gespannt das Netz der Berater, so bunt gemischt ist auch das Feld der bisherigen Kooperationspartner für die einzelnen Aktionen. Es reicht von Attac, dem BUND, Transparency Deutschland bis zur IG Metall.
Hier wiederholt sich, was schon seit einiger Zeit zu beobachten ist: Große und kleine, traditionelle und junge politische Organisationen bemühen sich, die Kräfte zu bündeln, um auf der außerparlamentarischen Bühne gemeinsam aufzutreten. Sie nutzen Campact neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Demonstrationen als weitere Möglichkeit, um zwischen den Wahlen auf dem Weg der direkten Demokratie politisch Einfluss zu nehmen. Wobei Campact mit einem klar umrissenen Profil arbeitet. Ziel ist es immer, auf den Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen. Weiteres wichtiges Kriterium: die Erfolgsaussichten. „Wir arbeiten zu allen politischen Themen, in denen es die Chance gibt, etwas zu verändern“, so Christoph Bautz.
Schnell, gezielt, effektiv: Politik als Serviceleistung
Campact reagiert auch auf ein Bedürfnis nach „Service“-Politik. Mit wenig persönlichem Aufwand der Teilnehmer soll in kurzer Zeit ein großer Effekt erzielt werden. So gibt es für jede Kampagne eine 5-Minuten-Info als Einführung in Thema und Argumentation. Vorformulierte Briefe lassen sich schon nach wenigen Mausklicks an die richtige Stelle schicken. „Wir wollen damit auch Menschen ansprechen, die von den sozialen Bewegungen nicht angesprochen werden und nicht die nötige Zeit haben, sich zu engagieren. Dabei gibt es niederschwellige und hochschwellige Angebote: Man kann den Aufruf unterschreiben oder selbst seinen Protest formulieren“, so Christoph Bautz.
Gezielt werden so die Volksvertreter mit dem Bürgerwillen konfrontiert. Den Auftakt bildete im April der Kampf gegen die drohende EU-Richtlinie für die Einführung von Softwarepatenten. Hier schloss sich Campact der starken und am Ende erfolgreichen europäische Protestbewegung gegen die Annahme der Richtlinie im EU-Parlament an. Zusammen mit Attac wurde auf die gezielte Bearbeitung der deutschen Parlamentarier gesetzt. Zur den E-Mails kamen zusätzliche Proteste vor Ort und eine Online-Demonstration, an der sich über 5.000 Menschen beteiligten. Die Versendung von Protestbriefen an den Abgeordneten des eigenen Wahlkreises wird als besonders wirksames Instrument eingestuft. So auch vor einem Monat, als kurz vor der Bundestags-Abstimmung über die Offenlegung der Nebeneinkünfte schon ca. 1.000 E-Mails genügten, um 120 Abgeordnete zu persönlichen Reaktionen auf die Mailaktion zu bewegen.
Von den Anfangserfolgen ermutigt, wagt sich Campact derzeit an einen größeren Brocken: „Mehrwertsteuer? Finger weg“ heißt die aktuelle Kampagne. Obwohl die Anhebung auf 19 Prozent in der großen Koalition beschlossene Sache ist, sieht Campact noch Chancen, die Einführung im Januar 2007 zu verhindern. In den ersten fünf Tagen haben sich 3.000 Menschen daran beteiligt.
Derzeit ist der reale Protest weitaus größer als der virtuelle. Allein in Lüneburg haben Anfang November 7.000 Menschen gegen die weitere Nutzung der Atomkraft demonstriert, 2.500 beteiligten sich dagegen bislang an der entsprechenden Campact-Kampagne. Keine überwältigende Zahl, aber zusätzliche Unterstützung. Und es spricht viel dafür, dass die Beteiligung parallel zu ihrem steigenden Bekanntheitsgrad wachsen wird.