Prekäre Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen

Bis zu 90 Prozent der Wissenschaftler sind befristet beschäftigt: der Soziologe Matthias Neis über die "prekäre Wissenschaft"

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Matthias Neis promoviert am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Thema "Prekäre Wissenschaft? Gefährdungspotentiale atypischer Beschäftigung in der Wissenschaft und ihre arbeitspolitische Gestaltbarkeit". Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Wissenschaftssoziologie und Hochschulforschung. Seit Februar 2010 arbeitet er im Projekt Fairspektive der Gewerkschaft ver.di, das eine Verbesserung der wissenschaftlichen Arbeitswelt an deutschen Hochschulen zum Ziel hat. Telepolis führte mit ihm ein Interview über prekäre Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen.

Laut einer Studie des Hochschulinformationssystems HIS zum Thema Wissenschaftliche Karrieren aus dem Jahr 2010 sind sogenannte Normalarbeitsverhältnisse in Form unbefristeter Vollzeitstellen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland die krasse Ausnahme: 88% der befragten Nachwuchswissenschaftler an deutschen Universitäten und sogar 94% der befragten Nachwuchswissenschaftler an außeruniversitären Forschungseinrichtungen waren befristet beschäftigt. Bei nicht-promovierten Nachwuchswissenschaftlern lag die Quote noch höher.

Das Präfix "Nachwuchs" ist purer Euphemismus, denn unter der Bezeichnung Nachwuchswissenschaftler werden wissenschaftlich Beschäftigte an deutschen Hochschulen subsummiert, die entweder an ihrer Promotion arbeiten und diese abgeschlossen haben und nun auf eine feste Abstellung, die es meist nur in Form einer Professur geben kann, hoffen.

Herr Neis, war die akademische Berufswelt nicht schon immer anders strukturiert als andere Bereiche der Erwerbsarbeit? Sind diese prekären Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler eher die Fortsetzung einer alten Tradition oder doch ein neues Phänomen?
Matthias Neis: Beides. In seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf aus dem Jahr 1919 sagte der Soziologe Max Weber, die akademische Karriere sei ein "wilder Hazard", also ein Würfelspiel. Diese Aussage gilt eigentlich bis heute. Es ist ein Würfelspiel oder ein Glückspiel, ob man es schafft, eine wissenschaftliche Karriere soweit zu bringen, dass sie sich dauerhaft trägt.
Im Laufe der Zeit gab es allerdings eine Wellenbewegung: In Westdeutschland hat man in den 70er und auch den 80er Jahren eine relativ hohe Zahl an Dauerstellen im Mittelbau unterhalb der Professur geschaffen. Die Anzahl dieser Stellen ist aber in den letzten 15 bis 20 Jahren massiv rückläufig. Es gibt demnach sowohl eine Tradition, aber auch eine Dynamik, wieder mehr prekäre Beschäftigungen, mehr Befristungen in der Wissenschaft durchzusetzen.

Wer keine Professur erreicht hat, bleibt trotz aller Qualifikation wissenschaftlicher Nachwuchs

Wie erklären sich die hohen Zahlen befristeter Beschäftigungsverhältnisse? Wissenschaftler scheinen stärker von befristeten Arbeitsverhältnissen bedroht als andere Berufsgruppen.
Matthias Neis: Das kann man sagen, vor allem sind sie stärker davon betroffen als andere hochqualifizierte Berufsgruppen. Trotz Hochschulabschluss arbeiten 85 bis 90% von ihnen in befristeten Verhältnissen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Der wesentliche Grund ist, dass das deutsche Wissenschaftssystem im Prinzip nur zwei Daseinsformen kennt: Wissenschaftler, die Professoren sind, und diejenigen, die es noch werden wollen. Es gibt keine andere selbständige Lehr- und Forschungsposition außer der Professur.
Wer keine Professur erreicht hat, ist wissenschaftlicher Nachwuchs. Darunter fallen dann Personen Ende vierzig, die schon fünf Bücher herausgegeben und eine Promotion abgeschlossen haben. Sie sind immer noch wissenschaftlicher Nachwuchs, weil sie nicht habilitiert sind beziehungsweise berufen wurden. Wissenschaftlichen Nachwuchs kann man immer wieder befristen, denn formal ist er ja noch auf dem Weg irgendwo hin. Mit dieser Begründung hält man Wissenschaftler in einer Befristung, auch wenn diese durch die Realität der Forschung und Lehre nicht gedeckt ist: Sie sind natürlich selbstständige Forschungs- und Lehrpersönlichkeiten.
Einen zweiten wichtigen Faktor stellen persönliche Abhängigkeiten dar: Durch die zentrale Stellung der Professoren sind alle anderen Wissenschaftler diesen nachgeordnet. Dadurch entsteht zwischen Professoren und wissenschaftlichem Nachwuchs eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis – mit der Folge, dass derjenige, der am längeren Hebel sitzt, die Flexibilität der Beschäftigungsverhältnisse erhalten will, denn diese geben ihm auch Steuerungsmöglichkeiten.
Normalerweise sind befristete Arbeitsverträge typisch bei Berufseinsteigern und jungen Arbeitnehmern. Wissenschaftler sind Ihnen zufolge auch im höheren Erwerbsalter noch stark von Befristungen betroffen?
Matthias Neis: Wir stellen zwar auch bei anderen Hochqualifizierten ein Wachstum von befristeter Beschäftigung fest, aber als Übergangsphänomen. Andere Hochqualifizierte starten mit einer befristeten Beschäftigung, erreichen aber nach drei bis vier Jahren im Regelfall eine Dauerbeschäftigung. In der Wissenschaft ist das anders: Dort begleiten Befristung und Unsicherheit fast das ganze Berufsleben, es sei denn es gelingt mit Mitte vierzig eine Berufung zu ergattern. Ansonsten ist Befristung die einzige Option für Wissenschaftler.

Viele arbeiten mit einer halben Stelle Vollzeit

Welche Rolle spielt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)? Es treibt anscheinend die Flexibilisierung voran.
Matthias Neis: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz formuliert seit seinem Inkrafttreten 2007 zentrale bundesweite Regelungen für Befristungen in der Wissenschaft. Frühere Regelungen im Hochschulrahmengesetz wurden im Verlauf der Föderalismusreform durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ersetzt, das zugleich einige Veränderungen mit sich brachte. Vor allem ist es nun möglich, Anstellungen im Hochschulbereich über die frühere 12-Jahres-Höchstgrenze hinaus zu befristen. Früher konnten Wissenschaftler zwölf Jahre ohne Begründung befristet angestellt sein, danach mussten sie entweder auf eine Professur berufen werden oder auf eine andere Dauerstelle gelangen, die es aber kaum noch gibt. Unter diesen Bedingungen konnte man weiter im Hochschulbereich arbeiten, andernfalls war man raus.
Diese Regelungen hat das Wissenschaftszeitvertragsgesetz aufgeweicht: Auch nach zwölf Jahren sind in beliebigem Ausmaß weitere Befristungen möglich, sofern mehr als die Hälfte der Stelle durch Drittmittel finanziert wird. Drittmittel gelten nun als Sachgrund für Befristung, notfalls bis zur Verrentung. Das Anwachsen der Drittelmittelprojekte an deutschen Hochschulen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren führte in Kombination mit den Regelungen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes zu einer massiven Erleichterung von Befristungen. Bei den betroffenen Wissenschaftlern kommt das durchaus gut an, weil die Alternative eben das Ende der Karriere wäre. Die wachsende Beschäftigungsunsicherheit wird aber schließlich für jeden zum Problem.
Innerhalb der Zwölfjahresfrist ist keine Begründung für eine Befristung erforderlich?
Matthias Neis: Innerhalb dieser Frist muss keine Begründung, kein Sachgrund für eine Befristung erbracht werden. Danach können Drittelmittelförderungen als Sachgrund für Befristungen herangezogen werden.
Macht das wissenschaftliche Interesse die wenig attraktiven Perspektiven erträglicher?
Matthias Neis: Das zeigen alle Untersuchungen: Die Leute sind mit dem Inhalt ihrer Arbeit unheimlich zufrieden und das lässt sie die Bedingungen, die sie durchaus kritisch sehen, immer weiter ertragen. Das Interesse und der empfundene Spaß an der Arbeit führen dazu, dass sie jeweils weitere Befristungen eingehen.
Drittmittelprojekte sind ein wichtiger Faktor für die Positionierung von Hochschulen in einschlägigen Hochschulratings und -rankings. Existiert Ihrer Meinung nach ein Zusammenhang zwischen Privatisierung von Hochschulen, Drittmittelprojekten und prekären Arbeitsbedingungen?
Matthias Neis: Privatisierung durch Forschungsförderung mit privatem Geld ist selten, Drittmittel stammen zu Dreivierteln aus öffentlichen Haushalten. Sie schaffen aber eine Art Pseudomarkt, ein privatwirtschaftliches Element, in dem man sich um diese Mittel bewerben muss. Drittmittel tragen durch die zeitliche Begrenzung, den Bewilligungszeitraum, zu einer Prekarisierung der damit finanzierten Beschäftigungen bei. Dauerstellen auf reiner Drittmittelbasis sind schwierig zu realisieren. Man sagt sich dann: Drittmittelfinanzierung ist das Zukunftsmodell und damit werden auch Befristungen zum Zukunftsmodell.
Wie äußern sich die prekären Bedingungen für Wissenschaftler im Arbeitsalltag?
Matthias Neis: Anekdotisch wird von unentgeltlicher Arbeit berichtet, etwa von Personen, die auf einen neuen befristeten Vertrag hoffen und nun an Projektanträgen für weitere Drittmittelförderung arbeiten oder die unbezahlt Artikel verfassen, um ihre beruflichen Aussichten zu verbessern.
Existieren hierzu Erhebungen?
Matthias Neis: Es gibt zwar ein weites Feld unbezahlter Beschäftigung in diesem Kontext, aber nur teilweise existieren Erhebungen dazu. Es gibt durchaus Untersuchungen, die zeigen, dass Personen unentgeltlich arbeiten, indem sie mehr Lehre anbieten, als sie müssen. Es gibt auch andere Beispiele wie das unentgeltliche Weiterarbeiten während der Arbeitslosigkeit, um nicht aus dem System herauszufallen. Dazu gibt es keine Daten, die Tätigkeiten sind informeller Art und schwer nachweisbar: Weil sie illegal sind, würde auch keiner eine solche Tätigkeit zugeben.
Gibt es auch eine Zunahme der Teilzeitstellen? Das Bild des Wissenschaftlers, der eine halbe Stelle innehat, aber das zeitliche Arbeitspensum einer Vollzeitstelle erfüllt, ist ja durchaus verbreitet. Trifft es Ihrer Meinung nach die Realität?
Matthias Neis: Das ist so. Wir haben dazu selbst vor zwei Jahren eine Erhebung durchgeführt. Die Leute haben eine halbe Stelle und arbeiten empirisch nachweisbar Vollzeit. Zusätzlich wächst der Anteil der Teilzeitbeschäftigung: Mittlerweile arbeiten 42% der wissenschaftlichen Mitarbeiter an deutschen Hochschulen in Teilzeit, davon hat der Großteil eine halbe Stelle oder eine Zweidrittelstelle. Die Zahl der Teilzeitstellen ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, fast vergleichbar der Zahl der Befristungen.

Frauen und Geisteswissenschaftler sind besonders von prekären Beschäftigungsverhältnisssen betroffen

Sind Frauen an deutschen Hochschulen stärker von diesen prekären Arbeitsverhältnissen betroffen als Männer?
Matthias Neis: Frauen sind tatsächlich stärker davon betroffen. Wenn man einen Zeitverlauf zeichnet, vom Ende des Studiums bis zur Professur, dann nimmt die Zahl der Frauen auf jeder Stufe weiter ab. Bei den einzigen sicheren wissenschaftlichen Stellen, den Professuren und den wenigen Leitungsstellen, findet man gerade noch 15 bis 16% Frauen – obwohl 50% der Studienabschlüsse auf sie entfallen.
Das heißt auch: Wir finden die Frauen vor allem in prekären Situationen, in Befristungen und auf Teilzeitstellen. Zudem herrschen in der Wissenschaft noch Rollenvorstellungen wonach zum Beispiel Frauen wegen Schwangerschaft vielleicht ausfallen. Für Frauen ist es schwieriger Stellen zu erhalten, die eine längere Perspektive bieten, denn über diese Stellen entscheiden eben meist die Männer, die auf 85% der Professorenposten sitzen.
Sind diese prekären Arbeitsbedingungen an außeruniversitären Forschungseinrichtungen ähnlich ausgeprägt wie an Universitäten?
Matthias Neis: Die Situation ist im Prinzip vergleichbar, auch wenn es geringe Unterschiede gibt. Zum Beispiel sind die Laufzeiten der befristeten Verträge im außeruniversitären Bereich im Durchschnitt in der Regel etwas komfortabler. Allerdings kann man eine Angleichung nach unten feststellen: Die Bedingungen an den Forschungseinrichtungen werden auch schlechter und gleichen sich dem niedrigen Niveau der Hochschulen an.
Gibt es Unterschiede zwischen Bundesländern? Oder nach Fachabschlüssen?
Matthias Neis: Obwohl man im Süden aufgrund besser materieller Bedingungen vom Gegenteilausgehen könnte, kann man regional wenige bis keine Unterschiede bei den Befristungen feststellen. Zwischen den Fächern gibt es allerdings Unterschiede: Zwar nicht bei der Befristungsquote, die ist in etwa gleich egal, aber bei den Teilzeitbeschäftigungen gibt es massive Unterschiede. Teilzeitverhältnisse sind vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften, schon nahezu flächendeckend, zu finden. In den Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften hingegen werden volle Stellen sogar für Nichtpromovierte angeboten. Der Grund ist klar: In diesen Fächern findet man niemanden, der sich auf eine Teilzeitstelle bewirbt. Qualifizierte Personen würden unter diesen Bedingungen vom freien Markt weggefischt.

Prekarisierung der Wissenschaftler in Deutschland deutlich stärker als in anderen Ländern

Wie sind die deutschen Verhältnisse im europäischen Vergleich zu bewerten? Ist die Prekarisierung der Wissenschaft in Deutschland besonders ausgeprägt?
Matthias Neis: Das kann man klar bejahen. Wenn man sich die Systeme in Frankreich, in England, sogar in den USA anschaut, findet man dort einen viel höheren Anteil an Personen, die eine Dauerbeschäftigung und vor allen Dingen auch eine eigenständige Forschungsposition haben. Sie haben zwar nicht immer den Professorentitel, haben aber exakt dieselbe Aufgabenbeschreibung. In Frankreich zum Beispiel sind 65% der Beschäftigten entweder Professeur oder Maître de Conférences, was man als "Hochschullehrer" übersetzen könnte, und haben Dauerbeschäftigungen mit selbständiger Arbeit. In Deutschland trifft das gerade einmal auf 15% der Beschäftigten zu.
Wie ist der weitere Biografieverlauf von Wissenschaftlern, die den Sprung auf eine unbefristete Stelle nicht schaffen und keine erneute befristete Anstellung an der Hochschule erhalten?
Matthias Neis: Er kann sich sehr unterschiedlich gestalten, weil sich der Ausstieg zu so unterschiedlichen Zeitpunkten ereignen kann. Das größte Problem hat der, der sehr lange in der Hoffnung auf eine Berufung die Wissenschaftskarriere verfolgt und dann Ende vierzig, Anfang fünfzig nicht weiterkommt. Wird er dann arbeitslos und kommt auf den Arbeitsmarkt, hat er ein großes Problem. Wer mit Mitte dreißig keine Perspektive im Wissenschaftsbereich wahrnimmt und in den Arbeitsmarkt eintritt, hat wesentlich bessere Karten. Das führt zur eigentlich abstrusen Situation, dass gerade diejenigen, die Wissenschaft lange und ernsthafter betreiben, gefährdeter sind als diejenigen, die relativ früh die Notbremse ziehen.
Überdurchschnittlich viele Befristungen, Teilzeitstellen und Phasen von Arbeitslosigkeit haben auch Auswirkungen auf Lebensplanung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und soziale Absicherung wie Renten. Sind Wissenschaftler Ihrer Meinung nach hier besonderen Belastungen unterworfen?
Matthias Neis: Aus meiner Sicht schon. Ihre Situation ist nicht einzigartig, wir haben eine Prekarisierung von Arbeitsbedingungen auf vielen Ebenen, auf denen auch solche Probleme zu finden sind. Dazu kommt oft noch das Problem der geringeren Einkommen. Mit einer vollen Stelle in der Wissenschaft verdient man ordentlich, wenn auch nicht überbordend. Aber Probleme wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Altersabsicherung und oft auch die Krankversicherung bei Betroffenen, die Stipendien haben, sind sehr ausgeprägt und erschweren die Teilhabe an Gesellschaft für diese Personen massiv.
Leiden unter diesen prekären Bedingungen und wenig positiven Aussichten Arbeitsklima und Arbeitsqualität oder ist die intrinsische Motivation so hoch, dass die negativen Rahmenbedingungen sich nicht schädlich niederschlagen?
Matthias Neis: Bislang ist dies das organisatorische Wunder des Hochschulsystems. Die Qualität ist noch vergleichsweise hoch, man würde das unter diesen Arbeitsbedingungen nicht erwarten – und das liegt an der Motivation und dem Engagement der Einzelnen. Aber es gibt Grenzen, irgendwann ist die Belastung so hoch, dass es nicht mehr möglich ist das Niveau der Arbeit zu halten. Obwohl es immer kürzere Verträge und schlechtere Entlohnung gibt, nehmen die Aufgaben zu: Ich muss mehr publizieren, muss mich stärker mit der Studienreform beschäftigen. Die Schere geht immer weiter auseinander. Irgendwann kommt es zum Bruch und dann wird es mit einem Mal zu massiven Qualitätsproblemen kommen.
Seltsamerweise haben die Hochschulen und auch die Wissenschaftspolitik diese Problematik gar nicht auf dem Schirm – weil es bisher ja auch einfach läuft: Es funktioniert doch noch, also machen wir so weiter. Das ist äußerst gefährlich, nicht nur für die Beschäftigten, sondern für die Hochschulen insgesamt.

Wissenschaftler sind Einzelkämpfer

Wie stellen sich neben den Hochschulen die Wissenschaftsorganisationen und Wissenschaftsbürokratie zu diesen Problemen, etwa der Wissenschaftsrat oder die Hochschulrektorenkonferenz?
Matthias Neis: In den vergangen fünf bis sechs Jahren lässt sich eine interessante Veränderung ausmachen. Früher waren wir als Gewerkschaften so etwas wie die einsamen Rufer, mittlerweile haben wir etwas Unterstützung bekommen: Sei es durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als großem Forschungsförderer, der sich dahingehend äußert, es müsse auch unter Drittmittelmaßgabe mehr unbefristete Stellen geben, sei es, dass der Wissenschaftsrat das Ausmaß an befristeten Arbeitsverhältnissen im Hochschulbereich als nicht sinnvoll erachtet.
Es sind Denkprozesse in Gang gekommen und darum haben wir uns auch bemüht. Alleine: Es ändert sich bislang nichts. Das liegt auch daran, dass die Hochschulen es sich nach eigener Aussage und immer mit dem Verweis zum einen auf fehlende Mittel, zum anderen auf das Ausbleiben langfristiger Finanzierungszusagen, nicht erlauben können unbefristet zu beschäftigen. Das ist ein Stück weit richtig; aber die Kreativität, die Hochschulen bei der Einwerbung von Drittmitteln an den Tag legen, ist plötzlich wie weggeblasen, wenn es darum geht, Beschäftigten etwas mehr Sicherheit zu geben, indem beispielsweise Lücken zwischen zwei Beschäftigungen abgefedert werden. Wenn es sich die Hochschulen auf die Fahnen schreiben würden, wäre hier mehr machbar.
Regt sich Widerstand bei den Wissenschaftlern? Organisieren Sie sich kollektiv, etwa in Gewerkschaften, oder schlägt das Einzelkämpfermodell der Wissenschaftler durch?
Matthias Neis: Dieses Modell ist genau das, was wir kennen. Wissenschaftler sind Individualisten und sie sind ein wenig misstrauisch, wenn es darum geht sich politisch zu verorten. Aber ich sehe in den letzten Jahren Änderungen: Der Unmut wird größer, wer vollwertige wissenschaftliche Arbeit leistet, will auch angemessen behandelt werden und nicht wie ein Lehrling. Das merken wir als Gewerkschaft, ver.di hat auch das Projekt Fairspektive aufgesetzt, das Leuten helfen will, sich zu organisieren. Es tut sich was, aber wegen der Tradition des Individualismus müssen wir nachbohren, damit wir das dicke Brett durchkriegen. Wir sind aber auf einem guten Weg.
Wie passt sich das Gesamtszenario der universitären Arbeitsbedingungen in das offiziell propagierte Bild des Wissenschaftsstandortes Deutschland ein?
Matthias Neis: Eigentlich überhaupt nicht. Einerseits haben wir die Wissensgesellschaft ausgerufen und behaupten Arbeit, die sich vor allem mit Wissenserschaffung, Wissensverteilung und Wissensvermittlung beschäftigt, sei die hochwertigste und die notwendigste, aber gleichzeitig behandeln wir die Leute, die diese Arbeit hauptsächlich machen, vorsichtig gesprochen, mehr als schlecht. Da passen die Dinge nicht zusammen. Die Hintergründe sind vielschichtig.
Richtig ist sicher, dass die Reden von der Wissensgesellschaft sehr wohlfeil sind, die Konsequenzen aber auch mal teuer sein können. Aber entweder wir meinen es ernst, und dann müssen wir konsequent sein. Oder wir wollen so weiter machen wie bisher und alles als leere Phrasen bestehen lassen.