Proteste in Frankreich: Rebels with a cause

Demonstration am Dienstag, den 17. Dezember. Foto: Bernard Schmid

Im Gegensatz zur kritiklos übernommenen Sicht der Regierung in Paris gewinnen bei der Rentenreform nicht alle Seiten. Die Versicherungskonzerne und andere finanzkapitalistische Akteure freuen sich auf frischen Profit

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Auch Emmanuel Macrons Neuer hat schon wieder Probleme. Soeben erst wurde der Sonderbeauftragte der amtierenden Regierung für die Renten"reform" - der frühere konservative Spitzenpolitiker Jean-Paul Delevoye - am Montag dieser Woche geschasst (Macrons Schützling und die soziale Gerechtigkeit). Am Mittwoch früh war er rasch durch seinen Nachfolger ersetzt worden.

Zunächst war ruchbar geworden, dass Delevoye seit circa drei Jahren 5.300 Euro monatliche Nebenbezüge seitens einer Allianz von Versicherungskonzernen bezogen hat - angeblich bloß für einen symbolischen "Ehrenvorsitz" eines Instituts für berufliche Fortbildung im Versicherungswesen, IFPASS -, und dies neben anderen Einkünften und Rentenansprüchen, die er aufweist. Da Delevoye den Status eines Regierungsmitglieds innehatte, war ihm dies verboten, und er verstieß überdies gegen eine gesetzliche Offenlegungspflicht. Inzwischen wurde deswegen auch die Justiz eingeschaltet.

Großzügig erklärte der Mann sich daraufhin bereit, 140.000 Euro unerlaubter Nebeneinkünfte aus dieser Quelle mal eben zurückzuzahlen. Dies ging freilich am tatsächlichen Problem vorbei, denn die Affäre machte ungewollt darauf aufmerksam, welche Interessen durch die "Reform"pläne bedient werden. Im Laufe des vorigen Wochenendes kamen dann überdies noch weitere unerklärte Nebeneinkünfte ans Licht. Delevoye bezog solche aus insgesamt dreizehn Quellen.

Personifizierung von BlackRock, der/das sich die Taschen vollstopft. ATTCA-Stand - im Hintergrund ist das Konterfei von Delevoye abgebildet. Foto: Bernard Schmid

Am Mittwoch wurde sein Nachfolger ins Amt eingeführt, der Abgeordnete der Regierungspartei LREM Laurent Pietraszewksi. Anders als der Sonderbeauftragte Delevoye, der den offiziellen Titel eines "Hochkommissars" trug, bekleidet Pietraszewski nunmehr den Posten eines Staatssekretärs. Er war ein Macron-Mann der ersten Stunde, der dessen neugegründeter Partei LREM - damals noch lediglich EM, wie "En marche" (oder wie die Initialen Emmanuel Macrons) bereits am ersten Tag ihres Bestehens im April 2016 beitrat.

Ein hoher Kapitalfunktionär, der bei früheren Angestellten schlechte Erinnerungen hinterlässt

Der neue Mann Macrons für die Renten"reform" war in seinem vorherigen Berufsleben Leiter der Personalabteilung der Supermarktkette Auchan, ihm unterstanden 46.000 Lohnabhängige, also ein hoher Kapitalfunktionär. Er war aber auch parlamentarischer rapporteur ("Berichterstatter", das ist der Abgeordnete des Regierungslagers, der einen Gesetzentwurf im Namen der Mehrheitsfraktion ins Plenum einbringt und in den Debatten verteidigt) bei der, inhaltlich aus Lohnabhängigensicht katastrophalen, Arbeitsrechts"reform" 2016/17. Also ein vielversprechendes Profil - in den Augen des organisierten Kapitals.

Allerneuersten Informationen zufolge hat aber auch er bereits ein Problem mit außerordentlich stattlichen Nebeneinkünften als Politiker von seinem ehemaligen Arbeitgeber ... Überdies stellte sich heraus, dass er als Leiter der Personalabteilung bei Auchan - zunächst auf lokaler, später auf zentraler Ebene - teilweise "wie ein Psychopath agierte". Bei der Supermarktkette hinterließ er jedenfalls laut Presseberichten "schlechte Erinnerungen".

So veranlasste er zu Anfang der 2000er Jahre, dass eine gewerkschaftliche Vertrauensfrau in "seiner" damaligen Filiale in Polizeigewahrsam genommen wurde, weil sie ein zu stark gebackenes und unverkäufliches Croissant einer hungrigen Kollegin zum Essen gegeben hatte. Nur mit Müh' und Not konnten die gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen ihre Kündigung verhindern. Ferner wird ihm eine "Hexenjagd" auf Gewerkschaftsmitglieder im Laufe seiner dortigen Karriere vorgeworfen.

Pietrazewski erklärte bei der Amtseinführung am Mittwoch ausdrücklich, inhaltliche Kontinuität zu seinem Vorgänger wahren zu wollen. Jener war's zufrieden: Seine politische Linie in Sachen "Reform" wird unangestatet bleiben. Nur er selbst war im Angesicht des Skandals politisch untragbar geworden.

Auf politisch unerwünschte Weise hatte Delevoyes Agieren ein Augenmerk auf die Interessenslage hinter den Regierungsplänen gelenkt.

Die Interessenslage hinter den Regierungsplänen

Längst sitzen nämlich just die Versicherungskonzerne und andere finanzkapitalistische Akteure in den Startlöchern, um endlich, endlich auch in Frankreich einen "Markt" für private, kapitalgedeckte Rentenversicherungen oder Zusatzabsicherungen zu eröffnen. Bereits bislang sind laut einer gewerkschaftlichen Quelle dort 14,2 Milliarden Euro in privaten Rentenfonds angelegt, dies entspricht jedoch "nur" 0,2 Prozent des BIP. Andere Quellen, die etwas umfassender zu rechnen scheinen, sprechen hingegen von 0,7 Prozent.

Foto: Bernard Schmid

Das ist aus Sicht finanzkapitalistischer Akteure in jedem Falle absolut ausbaubar im Vergleich zur Entwicklung in den USA, den Niederlanden oder auch Deutschland. Mit allen Risiken, die dies beinhaltet, wenn die künftigen Renten dann an den Finanzmärkten, auf einen Gewinn spekulierend, angelegt werden - aber eben auch Verluste verzeichnen können.

Zur Wochenmitte wurde nunmehr auch bekannt, dass einer der größten Kapitalmarktakteure des Planeten, das US-Unternehmen Blackrock, die französische Regierung im Vorfeld betreffend der "Reform"pläne für das Rentensystem "beriet" - und zu den zu erwarteten Gewinnern der "Reform" zählt.

Aus dem Regierungslager wird dies, man möchte sagen: wie üblich, als "verschwörungstheoretische Kasperei" abgetan. Im Unterschied zu diversen Verschwörungstheorien fußt der Hinweis auf die Gewinnaussichten von Blackrock und ähnlich gelagerte Gewinn jedoch auf einer rational begründbaren, aus materiellen Fakten hergeleiteten Realität.

Delevoye hatte, so lange er als Sonderbeauftragter der Regierung im Amt war, eine Werbegraphik für die Renten"reform" enthüllt. Anhand von neun Beispielfällen wird darin geschildert, dass es bei dieser - erstaunlich, erstaunlich - nur "Gewinner" gebe. Nun, wenn in einem abgekarteten Spiel alle zu gewinnen glauben, dann ist mindestens ein Teilnehmer angeschmiert worden.

Delevoyes Kalkül hatte natürlich die Profile sorgsam, jedoch auf unrepräsentative Art und Weise ausgewählt. Überdies legte er ihnen eine Beitragsdauer von 44,3 Jahren zur Rentenkasse zugrunde. Heute erfordert das Gesetz (seit der vorletzten Renten"reform" von 2010, die seit 2017 voll in Kraft getreten ist) mindestens 41,5 Beitragsjahre für eine Rente ohne Abzüge, infolge der bisher letzten "Reform" - jener von 2013/14 unter dem Sozialdemokraten François Hollande - werden es bis in fünfzehn Jahren, nach sukzessiver Steigerung ab dem kommenden Jahr, dann 43 Beitragsjahre sein.

Natürlich geht es um eine Absenkung

Andere Berechnungen (vgl. anschaulich hier) kommen da zu ziemlich anderen Schlüssen. Demnach kann "Mathieu", Jahrgang 1961, im derzeitigen System mit einer Rente (berufsgruppenbezogene Zusatzpensionen eingerechnet) in Höhe von 72,5 % seines letzten Einkommens aufs Altenteil gehen; sein Sohn "Mathias", geboren 1980, wird dies nach den künftigen Regeln jedoch nur noch mit 55,8 % des letzten Einkommens können. Und bei der Staatsbediensteten "Marie", Jahrgang 1961, sind es derzeit 64,1 %; für ihre Tochter "Maryam", Jahrgang 1990, werden es nur noch 54,4 % sein.

Diese Absenkung ist mathematisch zwingend aufgrund der neuen Kalkulationsregeln. Bislang wurde eine gewisse Anzahl von Berufsjahren zur Bemessungsgrundlage genommen, um die Rentenhöhe zu errechnen. In der Privatwirtschaft waren dies vor der "Balladur-Reform" vom Hochsommer 1993 - damals unter einer seit erst drei Monaten amtierenden Rechtsregierung mitten im Sommerloch verabschiedet, um nur ja nichts anbrennen zu lassen - in der Privatwirtschaft die zehn besten Berufsjahre.

Historisch war dies so vereinbart und damit begründet worden, dass (a) der Verdienst in aller Regel am Ende eines Erwerbslebens höher ausfällt als beim Berufseinstieg, und (b) ein zu brutaler Abfall des Lebensstandards mit der Pensionierung vermieden werden solle.

Infolge der "Balladur-Reform" von 1993 wurde dieser Zeitraum auf 25 Jahre, statt auf zehn, als Bemessungsgrundlage gestreckt. In den öffentlichen Diensten, wo die Einkommen in Frankreich durchschnittlich niedriger liegen als in der Privatwirtschaft (und auch als in Deutschland: Lehrergehälter sind in Frankreich circa halb so hoch wie in der Bundesrepublik), wird die Rente auf der Basis der letzten sechs Monate in der beruflichen Laufbahn angerechnet.

In beiden Fällen wird diese Bemessungsgrundlage künftig durch eine Kalkulation auf der Basis des gesamten Berufslebens, also künftig gesetzlich vorgesehenen 43 Jahren, erfolgen. Dies kann nur mit einer Absenkung einhergehen. Was die Regierung auch kaum leugnen kann, auch wenn sie es durch positiv klingende Formulierungen wie "Honorierung der Lebensleistung" zu verschleiern versucht.

Stilleben mit Polizei. Foto: Bernard Schmid

Auf eine gezielte journalistische Nachfrage in einem Interview an die Arbeits- und Sozialministerin Murielle Pénicaud, wie eine solche Streckung der Bemessungsgrundlage etwas anderes als eine Senkung zur Auswirkung haben könne, kam als Antwort denn auch nur absolut wirres Gestammel.

Hierin liegt wohl auch die wahre Crux der "Reform"pläne, auch wenn das Regierungslager und die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT - zweitstärkster Gewerkschaftsdachverband in Frankreich von den Mitgliederzahlen her (hinter der historisch älteren und linkeren CGT), derzeit stärkster von den Wahlergebnissen bei Personalvertretungen her und augenblicklich ausnahmsweise streikgewillt - die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit gegenwärtig auf ein anderes Terrain verlagern. Beide spielen nun das âge-pivot oder "Scharnieralter", dieser Ausdruck wurde vor etwa einem Jahr durch das Regierungslager in die Debatte eingeführt, zur scheinbar entscheidenden Frage hoch.

Die Verlagerung des Terrains und Scheingefechte in deutschen Medien

Dabei geht es darum, dass zwar das theoretisch geltende Mindestalter für den Renteneintritt von 62 (zwischen 1982 und der vorletzten "Reform" von 2010 waren es noch 60 Jahre) formal nicht angetastet werden soll, also eine Pensionierung mit 62 nicht gesetzlich untersagt wird - wohl aber vor 64 mit finanzielle Strafabzügen verbunden werden soll.

Die CFDT macht sich hier nun dafür stark, dass für jene eine Lösung gefunden werden soll, die die vollen 41,5 (künftig dann 43) Beitragsjahre zusammen haben, doch noch unter 64 sind. Aufgrund der Entwicklung der Erwerbsbiographien in den letzten Jahren wird dies allerdings immer weniger und weniger Menschen betreffen.

Während der kämpferische Teil der französischen Gewerkschaften (unter ihnen die CGT, die linken Basisgewerkschaften SUD bzw. ihr Zusammenschluss Solidaires sowie der Verband der Bildungsgewerkschaften, also die FSU) die gesamte Reform und vor allem ihre Auswirkungen auf die Rentenhöhe ablehnt, polarisiert die CFDT derzeit allein an der Frage des "Scharnieralters".

Dies hängt auch damit zusammen, dass sie längst ihren Ausstieg aus der gemeinsamen Streik- und Protestfront plant, jedoch unter Wahrung ihres Gesichts aus der Auseinandersetzung ausbrechen möchte.

Insofern ist in näherer Zukunft mit einem Bruch der gemeinsamen Streikfront durch einen möglichen Frontenwechsel der CFDT ähnlich wie bei früheren Sozialkonflikten in Frankreich (1995, 2003) zu rechnen. Jedenfalls wenn das Regierungslager in den derzeit vor und hinter den Kulissen laufenden Verhandlungen nicht in der Sache derart hart bleibt, dass selbst die CFDT-Spitze sich nicht auf einen "Kompromiss" einlassen kann, wie es noch am Mittwochabend der Fall war.

Die Mehrzahl der Streikenden, etwa in den Transportbetrieben und Schulen, zählen jedoch derzeit weit eher zur CGT, zu den SUD-Gewerkschaften, bei der Eisenbahn auch zur (ansonsten eher CFDT-nahen), sich als "unpolitisch" verstehenden Gewerkschaftsvereinigung UNSA.

Leserschaften in die Irre führen

Auch die deutschen Leitmedien führen ein Scheingefecht, wenn sie so tun, als sei das Renten-Eintrittsalter der springende Punkt. Der Spiegel etwa führt seine Leserschaft diesbezüglich in die Irre. Er berichtete jüngst unter dem Titel "Der kommende Aufstand" über die Sozialproteste in Frankreich. Dabei spielt die Überschrift natürlich auf die gleichnamige Schrift auf dem Jahr 2007 in Form eines kleinen Büchleins an - ein von scheinradikaler Romantik geprägtes Opus, das viel mit Revolutions-Lyrik, jedoch herzlich wenig mit materialistischer Gesellschaftsanalyse zu tun hat.

Foto: Bernard Schmid

Wie schon damals, kurz nach ihrem Erscheinen, im deutschen Feuilleton bis hin zur FAZ soll die Evozierung dieser Schrift beim Bürgertum ein wohliges Gruselgefühl erzeugen, ohne jedoch die Menschen mit irgendeiner Form kritischer Analyse oder gar realer Gesellschaftsveränderung zu behelligen. Vom Inhalt her beginnt der Spiegel-Artikel jedoch bereits ab der Unterüberschrift mit Unwahrheiten.

Dort steht nämlich zu lesen, es gehe bei den Arbeitskämpfen und Demonstrationen um folgende Problematik: " Bahnangestellte sollen nicht mehr mit 56 in den Ruhestand gehen." Das tun diese jedoch ohnehin nicht, jedenfalls nicht heutzutage. Historisch, aus den Zeiten von Dampflokomotiven, hat es tatsächlich einmal die Errungenschaft gegeben, dass Lokführer mit frühestens 50 und andere Bahnbeschäftigte mit frühestens 55 in Rente gehen konnten.

Doch seit den vorletzten Renten"reformen" von 2003 in den öffentlichen Diensten sowie 2007 in den Transportbetrieben bleibt zwar eine relativ niedrige Altersangabe als Relikt stehen (das Mindestalter wird seitdem schrittweise auf 52,5 Jahre für Lokführer und 57,5 Jahre für andere Bahnbedienstete angehoben) - jedoch unter Anlegen derselben Anforderungen betreffend die Beitragsjahre wie in den anderen Berufsgruppen.

Welche Frau oder welcher Mann also heute als Bahnbeschäftigter mit 57 in Rente ginge, würde dies entweder mit sehr erheblichen finanziellen Einbußen tun und könnte von der Pension kaum leben, oder aber sie oder er tut dies nur, um für die letzten Arbeitsjahre ein zweites Berufsleben zu starten. In anderen Berufsgruppen besteht ohnehin keine Möglichkeit für einen Renteneintritt in diesem Alter. Der Spiegel schreibt folglich nicht die Wahrheit ("Sagen, was ist"?) - sei es durch Unterlassung und durch das Konstruieren von Pseudoproblemen.

Die Hauptverlierer der Reform

Zu den Hauptverliererinnen der "Reform" werden die weiblichen Beschäftigten zählen. Deswegen gibt es auch eine gemeinsame Kampagne von Frauenrechtsgruppen zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der regressiven "Reform". Aufgrund von größeren "Lücken" in den Erwerbsbiographien durch Kinderziehungs-, Aus- und Unterbrechungszeiten sowie schlechter entlohnter Teilzeitarbeit werden die Frauen besonders benachteiligt.

Bislang erhielten weibliche Beschäftigte zwei Beitragsjahre pro Kind angerechnet, eine Regelung, die mit der "Reform" verschwinden wird; ab drei Kindern wurde die Rente sowohl beim Vater als auch bei der Mutter um zehn Prozent angehoben. Diese Regeln werden nun voraussichtlich beseitigt. Stattdessen soll es eine neue Kompensationsregel geben, aufgrund derer die Regierung fälschlich behauptet, Frauen zählten zu den "Gewinnerinnen der Reform".

Künftig wird es den vorliegenden Plänen zufolge eine Erhöhung der zu erwartenden Rente pro Kind um 5 %, ab dem dritten Kind um je 7 % geben. Allerdings nur entweder beim Vater oder für die Mutter. Beide müssen sich bis zum vierten Lebensjahr des Kindes dafür entscheiden, wem die künftigen Rentenpunkte angerechnet werden. Viele Beobachter rechnen damit, dies könne häufiger dem Vater zugute kommen (jedenfalls bei gemeinsam lebenden Eltern), da in der sozialen Realität die Einkommen der Männer zwar nicht immer, doch oft höher ausfallen.

Und was, wenn später eine Trennung der Eltern oder ihre Scheidung erfolgt und also keine gemeinsame Einkommensverwaltung mehr besteht? Pech für die Mütter?

Die Proteste: Spürbar stärkere Präsenz von Demonstranten aus der Privatwirtschaft

Und noch zu den Protesten selbst: Diese gehen unterdessen weiter. Am Dienstag, den 17. Dezember, dem dritten zentralen Aktionstag, gingen wiederum zahlreiche Menschen zum Massenprotest auf die Straßen. Am Abend sprach das Innenministerium von "615.000" Teilnehmenden in ganz Frankreich; das wären mehr als am zweiten Aktionstag (10. Dezember) mit damals laut Regierungsangaben "339.000" Teilnehmerinnen und Teilnehmern, jedoch weniger als am ersten Aktionstag (05. Dezember) mit "806.000".

Die Union syndicale Solidaires ihrerseits gab die Teilnehmerzahl in ganz Frankreich mit "1,6 Millionen" an, die CGT ihrerseits mit "1,8 Millionen". Dies entspricht wiederum einem Zuwachs auch gegenüber dem ersten und bis dato stärksten Aktionstag am 05. Dezember, mit damals 1,5 Millionen Teilnehmenden laut CGT.

Wie es nun genau quantitativ aussieht, lässt sich freilich objektiv nur schwer einschätzen. Bezogen auf Paris sprach ein Medienkollektiv (Occurrence) von "72.500" Teilnehmenden, die Polizeiführung am Abend von "76.000", die CGT von "350.000".

Gesichert ist, dass die Demonstration extrem kompakt ausfiel, zeitweilig gingen über fünfzig Personen auf dem breiten Boulevard - zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille - plus den angrenzenden Trottoirs gleichzeitig nebeneinander. Um 14 Uhr war die Spitze, vorne liefen die Eisenbahner vom Pariser Ostbahnhof (der Gare de l'Est) sowie streikende Métrobeschäftigte, bereits auf der Place de la Bastille angekommen.

Unterdessen standen die Menschen auf der 1,7 bis 1,8 Kilometer Luftlinie entfernten Place de la République und auf den angrenzenden Boulevards dicht gedrängt. Um 15.30 Uhr war die CGT, als stärkste teilnehmende Organisation, vom Ausgangsort noch nicht losgelaufen, zu dem Zeitpunkt waren erst der Spitzenblock (Unorganisierte & Linksradikale), die Bildungsgewerkschaften-Vereinigung FSU sowie der Dachverband FO losgelaufen. Noch nach 16 Uhr waren die zeitlich Letzten noch nicht in Bewegung gekommen.

Anfänglich dominierte vor allem die Farbe Weiß, da Tausende von Krankenpflegern und -schwestern mobilisiert hatten. Aus den Krankenhäusern, wo bereits seit März d.J. Wiederholt gegen schreienden Personalmangel und unzureichende Mittelausstattung mobilisiert wird, war bereits Mitte November d.J. (in Antwort auf den damaligen, als völlig ungenügend betrachteten "Notplan" der Regierung für das Krankenhauswesen) zu einem Aktionstag für diesen 17. Dezember aufgerufen worden, noch bevor die intersyndicale dieses Datum zu ihrem zentralen Aktionstag erhob.

Später kamen, aus der Menge vielfach applaudierte, streikende Feuerwehrleute sowie, natürlich, die Beschäftigten der Eisenbahn und Transportbetriebe an prominenter Stelle hinzu. Aus dem öffentlichen Bildungswesen liefen zahllose Delegationen unter dem Transparent ihrer jeweiligen Schule oder Universität.

Vor allem in den Reihen der CGT war aber auch eine, im Vergleich zu früheren Bewegungen ähnlicher Natur, spürbar stärkere Präsenz der Privatwirtschaft zu verzeichnen: Chemiewerker aus den Raffinerien des Erdölgiganten TOTAL, eine Abordnung von Alstom aus dem Pariser Vorort Saint-Ouen oder von Safran in Villaroche (Safran ist ein Großunternehmen der Metallindustrie, Flugzeug-, Raumfahrt- und auch Rüstungsproduktion).

Foto: Bernard Schmid

Derzeit geht es in Paris in manchen Stadtteilen und auf manchen Kreuzungen ein bisschen zu wie in der VR China in den 1970er Jahren. Nein, nicht im Hinblick auf die dort verfolgte Gesellschaftspolitik, wie immer man diese nun bewertet. Aber im Hinblick auf die Anzahl der Fahrräder. Halb Paris scheint sich nunmehr ans Fahrrad-, Tretroller- und Mofafahren gewöhnt zu haben. Auch ungewöhnlich viele Fußgänger/innen sind unterwegs. Klar, die Ursache ist bekannt: Die öffentlichen Transportmittel verkehren nicht in der üblichen Art und Weise.

Die Regierung scheint zum jetzigen Zeitpunkt bereit, den Massenprotest auszusitzen, um auf die Weihnachtspause zu warten. Nachdem mehrere Gewerkschafter wie etwa die Eisenbahner-Branche der CGT klar zu erkennen gaben, dass sie notfalls "keinen Weihnachtsfrieden einhalten" würde, versucht nun die Regierung, daran zu appellieren, dass relevante Teile der Gesellschaft mit einem Ausfall des Familienreiseverkehrs über die Feiertage unzufrieden sein könnten.

In dieser Perspektive riefen etwa Premierminister Edouard Philippe und Transportministerin Elisabeth Borne, taktisch nicht ungeschickt zu einer Streikpause auf - im Januar 2020 könnten die Beteiligten ja weiterstreiken, fügten sie in vertrauenseinflößendem Tonfall hinzu. Wohl darauf bauend, dass die Dynamik eines einmal unterbrochenen Streiks in sich zusammenfallen könnte.