Proteste in Seattle, London und im Internet
Schwerer Start für die Welthandelsgesprächsrunde
Demonstrationen in Seattle und London anläßlich der Eröffnung der Gesprächsrunde über die Neuregelung der Welthandelsbeziehungen führten zu gewalttätigen Konfrontationen zwischen Demonstranten und der Polizei. Gleichzeitig eröffneten die "Electro-Hippies" ihr virtuelles Sit-in im Internet.
In London versammelten sich unter dem Slogan "Reclaim the Railways" zwischen 500 und 2000 Demonstranten am Verkehrsknotenpunkt Euston Station. Im zunächst friedlichen Teil der Veranstaltung wurde gegen Freihandel und Globalisierung, aber auch gegen die Privatisierung der Bahn und die geplante Teilprivatisierung der U-Bahn protestiert. Als ein Polizeikordon den Bahnhof zu umringen begann, waren tausende Pendler ihrer Reisemöglichkeit beraubt und der Verkehr auf den umliegenden Straßenkreuzungen kam zum Stillstand. Ein Ausbruchsversuch von ca. 100 der sich umringt sehenden Demonstranten führte schließlich zu Scharmützeln mit der Polizei. Es gab sieben Verletzte, davon ein Polizist. Mindestens ein Polizeifahrzeug wurde umgeworfen und in Brand gesetzt. 40 Verhaftungen wurden von der Polizei vorgenommen, einige davon in Zusammenhang mit der Demonstration vom 18.Juni. "Polizeiinformanten", berichtete die BBC, "machten bekannte Rädelsführer des 18.Juni ausfindig", die von Polizeistoßtrupps dann gezielt aus der Menge gefischt wurden.
Auch in Seattle kam es zu Kämpfen zwischen Polizei und Demonstranten. Eine geplante Eröffnungszeremonie für die sogenannte Millenniumsrunde der Welthandelsgespräche mit Madeleine Albright und Kofi Annan mußte zunächst verschoben, dann abgesagt werden, da die Politiker in den Hotels festsaßen. Die Polizei versuchte unter Einsatz von Pfeffergaspatronen und Gummimantelgeschoßen besetzte Straßenkreuzungen zu räumen. Im ansonsten ruhigen Seattle ist dies seit den Anti-Vietnam-Demonstrantionen das erste Mal, dass solche Mittel eingesetzt wurden. Die Polizei bestätigte mindestens 19 Verhaftungen und verhängte eine Ausgangssperre von 19.00 bis 03.00 Uhr lokaler Zeit. Offizielle Vertreter der World Trade Organization (WTO) waren unterdessen bemüht klarzustellen, dass eine Plenarsitzung und die eigentlichen Arbeitsrunden trotz allem planmäßig begonnen hätten. Allerdings fanden viele dieser Gespräche telefonisch, von Hotel zu Hotel statt.
Die "Electro-Hippes" aus UK eröffneten wie angekündigt pünktlich am 30.November um 16.00 Uhr Greenwich Zeit ihr virtuelles Sit-in. Die vom "Electronic Disturbance Theater" geborgte Methode besteht darin, dass eine Javascript-gepowerte Web-site auf einen Mausklick eines virtuellen Teilnehmers hin aus 6 Frames heraus HTTP-Abfragen im Abstand von jeweils 3 bis 4 Sekunden auf offizielle WTO-Sites abfeuert. Die Idee ist, in einer "Denial of Service Attack" die Webserver der WTO in die Knie zu zwingen. In einer vorbereiteten Stellungnahme wird dazu aufgerufen, das Sit-in speziell am 3.Dezember noch einmal zu intensivieren, da dann die Schlussdokumente der Konferenz veröffentlicht werden sollen.
Sowohl in Seattle als auch in London warfen sich Polizei und Demonstranten gegenseitig vor, die Gewalt provoziert zu haben. Zugleich bestätigten verschiedene Medienberichte, dass Gewaltaktionen der Demonstranten jeweils nur von einer Minderheit ausgingen. In Seattle soll die Masse der friedlich Demonstrierenden sogar "Shame on you!" ausgerufen haben, sobald vermummte Aktivisten Geschäftsauslagen zu demolieren begannen. Eine Labour-Parlamentsabgeordnete beschwerte sich in einem BBC-Interview über die "gravierende Überreaktion der Polizei", die in Star Wars Uniformen, gepanzerten Fahrzeugen und Gewehren gegen die Demonstranten vorrückte.
WTO in der Defensive
US-Präsident Bill Clinton sagte in einem Fernsehinterview, dass die Meinungen der Kritiker auf den Straßen auch in den Konferenzsälen gehört und berücksichtigt werden sollten. Diese Botschaft des Dialogs gab die Linie für weitere Stellungnahmen von Politikern und WTO-Offiziellen vor. Der neugewählte WTO-Generaldirektor Michael Moore beschuldigte die Demonstranten, den Armen der Welt mit den Ausschreitungen einen schlechten Dienst zu erweisen, gab sich aber ansonsten durchaus defensiv. Er wisse, dass seine Organisation nicht fehlerfrei sei, sagte er in einer Pressekonferenz, die an Stelle der Eröffnungszeremonie hastig eingerichtet wurde. Noch am Vortag hatte man auf einer neuen Sektion der Web-site der WTO-Ministerkonferenz die 10 Hauptpunkte der Kritik zu entkräften versucht.
Die Welthandelsorganisation sieht sich nicht nur mit beharrlicher Kritik von außerhalb konfrontiert, auch die offiziellen Gespräche der Delegierten aus 135 Ländern sind von Positionsstreitigkeiten überschattet. Fast kaum ein Gebiet, auf dem sich die zu verschiedenen Blöcken formierenden Teilnehmerländer einigen können, ob Landwirtschaft, Patentrechte, Arbeitnehmerrechte oder Umweltschutz. Es scheint sich abzuzeichnen, daß Bill Clintons Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht und sich die Agenden der offiziellen Gespräche und der Straßenproteste zu überschneiden beginnen. Die jeweiligen Interessensblöcke nutzen den deutlich hörbaren Protest von der Straße, um ihren Kerninteressen mehr Nachdruck zu verleihen und in letzter Minute Konzessionen zu erzwingen. Auch wenn die "Battle of Seattle" immer noch wie das Hornberger Schießen ausgehen könnte, so macht die weitgestreute Kritik an Inhalten und Verfahren der WTO zumindest die Brüche der Neuen Weltordnung sichtbar. Die Fragen einer gleichmäßigeren Verteilung des Reichtums, der Arbeitnehmerrechte und des Umweltschutzes sind auf der Prioritätenliste der Verhandlungen deutlich höher gerückt. Die bereits seit Wochen im Vorfeld im Internet laufenden Kampagnen haben zu der erhöhten Sichtbarkeit bislang marginaler Themen im WTO-Kontext sicherlich beigetragen.