Proust und die literarische Physik
Experimentalkulturen: Eine Tagung des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin
Die Kybernetik ist eigentlich eine unmoderne Bewegung. Untersucht man zum Beispiel das Lebenswerk von Grey Walter, dann lernt man nicht nur einen Frauenhelden, Anarchisten und Drogenfreund kennen, sondern einen Magier. Grey Walter war nicht modern, weil er die klaren Konzepten der Moderne, also die Trennung zwischen Körper und Geist und zwischen Natur und Kultur, nicht mehr akzeptierte. Walter konstruierte Ende der fünfziger Jahre "Schildkröten". Das waren kleine Roboter, die selbständig Hindernissen aus dem Weg gehen konnten. Sie hätten aber auch zu Waffen weiter entwickelt werden können, erklärte Andrew Pickering, der auf sympathische, aber skurrile Weise von seinem Forschungsgegenstand der Kybernetik und ihrem Protagonisten Walter fasziniert war.
Pickering sprach auf der Tagung Experimentalkulturen - Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik, und er wurde heftig angegriffen, gilt doch die Kybernetik mit dem zentralen Begriff der Kontrolle als synonym für eine moderne Technik der Beherrschung. Insgesamt vermittelte die zweitägige Veranstaltung in Berlin Ansichten einer neuen Wissenschaftsgeschichte, wie sie das Max-Planck-Instituts in Partnerschaft mit dem Zentrum für Literaturforschung Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar entwickelt. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Fortschritte der menschlichen Vernunft zu huldigen oder die Karrieren herausragender Persönlichkeiten nachzuzeichnen. Ihre Qualität liegt darin, dass sie keinen einheitlichen Begriff der Zeit voraussetzt, sondern verdeutlicht, dass Zeit und Leben veränderliche Kulturgüter sind, die in künstlerischen und wissenschaftlichen Experimenten geformt werden.
Der Film als Zeitmaschine ermöglichte es erst, Veränderungen in lebenden Zellen festzustellen. Dabei war die Geschwindigkeit beim Abspielen geschnittener Aufnahmen aussagekräftiger als die ungeschnittene Aufnahme. Bezeichnend für die Diskussion um das Wechselverhältnis von Medien und Geschichtsschreibung waren die Fragen an Hannah Landecker, die in ihrem Referat den Film als Tür bezeichnete, die den Weg in die Welt der Zellen eröffnet. Kann man eine Aufzeichnungstechnik wie den Film wirklich als eine Tür in eine bisher nicht gesehene Welt bezeichnen oder ist der Film nicht vielmehr identisch mit der wahrgenommenen Welt? Das ist eine Frage, ob Medien Interfaces zwischen existierenden Welten bilden oder ob sie eine eigene Welt konstruieren.
Peter Geimer thematisierte in der abschließenden Diskussion eben den Status des dazwischen Liegenden. Verblüffend war, dass die Reaktionen auf seine Bemerkung nicht die Funktion von Medien ansprachen. Offensichtlich wollte keiner der Diskutanten des Medienmaterialismus bezichtigt werden, der mit McLuhan und Kittler argumentiert, dass Medien das raumzeitliche Verhalten einer Kultur bestimmen und Differenzen zwischen Kunst und Wissenschaft nivellieren.
Wesentliche Schritte zur Herausbildung eines einheitlichen Zeitbegriffes geschahen zum Beispiel im Schweizer Jura. Die Uhrmacher von Neuchatel lebten verstreut in der Umgebung der Stadt. Sie wurden ab 1862 von einer eigens gebauten Sternwarte auf ein gemeinsames Zeitzeichen hin geeicht. Die Schweizer Zeitexpertise führte nach Henning Schmidgen zum Bau von präzisen Messgeräten, die in den Laboren der Physiologen verwendet wurden, um die Zeitspanne zwischen Reiz und Reaktion zu messen.
Schmidgen verdeutlichte vor diesem Hintergrund eine produktive Wendung von wissenschaftlichen Experimenten in den künstlerischen Lebensversuch des Schriftstellers Marcel Proust. Labore zur Erforschung von Reizreaktionen in Yale und Leipzig waren um 1900 primär daran interessiert, störende Körperregungen zu eliminieren. Proust trieb hingegen die strukturelle Störung durch den eigenen Körper auf die Spitze. Seine geräumige Pariser Wohnung war wie ein wissenschaftliches Labor von Außenreizen abgeschottet. Er hörte manchmal nur das Pochen des eigenen Blutes. Das war für ihn Anlass, sein Ich in verschiedene Bewusstseine aufzuspalten und diese getrennt zu befragen. Proust spürte einer literarischen Physik nach, wie Joseph Vogl darlegte. In dem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" stellt Proust eine Vielfalt von Zeitperspektiven dar, die analog zur entstehenden Vielfalt der Zeit innerhalb der zeitgenössischen Physik sei.
Die Tagung trug dieser Vielfalt Rechnung und enthielt sich der Suggestion eines zusammenfassenden Überblicks. Das hatte gleichwohl explosive Seiten, die Bruno Latour umriss. Der stellte die Wissenschaftsgeschichte als ein kritisches Unternehmen dar, das Handlungsmöglichkeiten erarbeitet. Ansatzpunkt war für ihn, dass die heutige Gesellschaft Tausende von Verkehrstoten akzeptiert, während der Tod einiger weniger auf Grund BSE-erkrankter Rinder ein Skandal ist, der die Volkswirtschaften turbulent verändert. Der Vorteil einer historischen Beschäftigung mit den Wissenschaften vom Leben liege darin, auf Vielfältigkeiten hinzuweisen, die Politik alleine nicht wahrnehmen und erzeugen kann.