Prozess gegen Ex-KZ-Sekretärin: Ist späte Gerechtigkeit überhaupt noch möglich?
Was die deutsche Justiz über Jahrzehnte versäumte, kann nicht mehr nachgeholt wurden
Dass im Jahr 2021 ein Prozess über die Verbrechen in Konzentrationslagern der Nazis noch einmal für weltweites Aufsehen sorgt, ist schon überraschend. Einen späten Akt der Gerechtigkeit nannte das Internationale Auschwitz-Komitee den Prozess gegen die 96-jährige Irmgard F. vor dem Amtsgericht Itzehoe.
Allein 31 Pressevertreter haben sich akkreditiert. Mehr fanden unter Corona-Bedingungen keinen Platz im Gerichtssaal. Auch Angehörige von Opfern des Naziregimes aus aller Welt verfolgen den wohl letzten Prozess dieser Art.
Der Angeklagten wird vorgeworfen, vom 1. April 1943 bis zum 1. April 1945 im Konzentrationslager Stutthof - einen Steinwurf von den Häftlingsbaracken entfernt - als Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe tätig gewesen zu sein. Konkret wird ihr damit Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen.
Doch am ersten Prozesstag war die Angeklagte verschwunden. Statt vor der Dritten Großen Jugendkammer des Amtsgerichts zu erscheinen, war sie zuvor mit einem Taxi aus ihrem Pflegeheim weggefahren, wurde aber schnell gefasst.
Ganz überraschend dürfte ihr Fernbleiben nicht gewesen sein. Schließlich hatte die Angeklagte an das Gericht geschrieben, dass sie wegen ihres hohen Alters und ihres Gesundheitszustands nicht am Prozess teilnehmen werde und vorgeschlagen, dass sie sich im Prozess von ihrem Anwalt vertreten lassen wolle.
Das ist aber rechtlich bei Strafverfahren in Deutschland gar nicht möglich. Zudem erhoffen sich die Verbände der Opfer, dass die Angeklagte umfassend aussagt.
"Ihre Aussage könnte besonders Jugendlichen verdeutlichen, wie Menschen durch eine Ideologie des Hasses und der Gewalt abgerichtet werden können, sich über Jahre an der bürokratischen Umsetzung von antisemitischem Massenmord und rassistischen Verbrechen zu beteiligen, erklärte das Auschwitz-Komitee in einer Pressemitteilung.
Jahrzehntelange Prozessverschleppung
Eine solche Wirkung wäre wohl das einzige Argument, das dafür spricht, diesen Prozess überhaupt noch zu führen. Ansonsten muss man sich fragen, was es bringt, eine 96-Jährige 76 Jahre nach dem Ende des Naziregimes anzuklagen. Gerechtigkeit für die Opfer wäre erreicht worden, wenn die Taten möglichst zeitnah angeklagt worden wären und nicht im Jahr 2021, wo kaum noch ehemalige KZ-Häftlinge leben.
Doch in der deutschen Justiz waren zunächst viele hochgradig belastete Altnazis vertreten, die naturgemäß kein Interesse an solchen Verfahren hatten. Sie wurden im Kalten Krieg durch eine politische Konstellation gedeckt, in der alte und neue Nazis längst wieder im Kampf gegen den Kommunismus oder was dafür gehalten wurde, gebraucht wurden.
Bis Mitte der 1960er-Jahre wurden in der ehemaligen Bundesrepublik Kommunisten mit der Begründung besonders hart verurteilt, dass sie auch durch Strafen während der Nazizeit nicht von der kommunistischen Weltanschauung abgebracht werden konnten.
Es gab natürlich auch Juristen wie Fritz Bauer in Hessen, die Naziverbrechen vor Gericht bringen wollten. Doch sie waren die sprichwörtlichen Ausnahmen, die die Regel bestätigten, dass diese Verbrechen möglichst nicht angeklagt wurden.
Bauer sagte selbst, dass er sich in Feindesland bewegte, wenn er sein Büro verließ. Er informierte wohlweislich die israelische Regierung, als ihm der Aufenthaltsort von Adolf Eichmann bekannt wurde.
In Deutschland wäre es wohl gar nicht erst zu Anklagen gekommen. Doch mit den Auschwitz-Prozessen leistete Bauer in den 1960er-Jahren eine Pionierarbeit bei der Verfolgung von Naziverbrechen. Forciert wurde sie in den 1970er-Jahren, als viele der Belasteten aus Justiz und Verwaltung in Rente gingen. Dafür setzte in der jüngeren Generation ein stärkeres Interesse an Naziverbrechen in den jeweiligen Orten und Gemeinden ein.
Wärhend die Täter nicht gerne darüber sprachen, wuchs das Interesse an mündlich überlieferter Geschichte schnell an. Damals waren die lange an den Rand gedrängten Widerstandskämpfer plötzlich als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sehr gefragt. In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche Bücher von ihnen. Sie forderten vehement die juristische Aufarbeitung.
Hier wäre der Begriff "späte Gerechtigkeit" angebracht gewesen. Es waren schon Jahrzehnte vergangen, aber noch lebten auch viele der Betroffenen. Doch damals galt noch die Devise der deutschen Justiz, für eine Verurteilung müsse den Nazi-Tätern eine konkrete Beteiligung an Verbrechen nachgewiesen werden.
Sie mussten entweder selber geschlagen oder geschossen oder sich an Misshandlungen von Gefangenen beteiligt haben. Dieser Nachweis war schon in den 1970er oft nicht so einfach und so waren Verurteilungen selten.
Deutschland als selbsterklärter Aufarbeitungsweltmeister
Erst 2010 im Verfahren gegen den früheren SS-Hilfswilligen John Demjanjuk änderte die deutsche Justiz die Verurteilungskriterien. Danach konnte auch angeklagt werden, wer irgendwo in der Vernichtungsmaschinerie gearbeitet hatte, ohne selbst geschossen oder geschlagen zu haben. Inzwischen hatte sich die deutsche Staatsraison verändert. Nicht mehr das Verschweigen und Kleinreden der Naziverbrechen steht im Zentrum.
Jetzt ging es darum, der Welt zu zeigen, wie gut man die "eigenen" Verbrechen aufarbeitete - und das sollten gefälligst auch die anderen Staaten tun. So wähnte sich Deutschland plötzlich der Seite der Guten. Man gerierte sich als Aufarbeitungsweltmeister und formulierte den Anspruch, dafür politischen Einfluss zu erlangen.
In diesem Kontext steht auch die Anklage gegen die 96-jährige Stutthof-Sekretärin. Wenn ein politischer und juristischer Wille vorhanden gewesen wäre, hätte man sie schon Ende der 1950er-Jahre anklagen können.
Ihre Wohnadresse war immer bekannt und sie war zu dieser Zeit sogar von einem Gericht befragt worden, wo die Sekretärin ganz offen über ihre "Arbeit" berichtete. Damals wäre ein Verfahren gegen sie tatsächlich ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer gewesen.
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