Psychologie der Begrenzung

Warum die Grünen alles verbieten wollen, warum das gut sein kann, und warum es vielleicht nicht sein muss

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Trotz Sommerlochs: Der Wahlkampf tobt. Alle zur Bundestagswahl zugelassenen Parteien versuchen, dem Wähler ihre Programme näher zu bringen. Abgesehen von Themen zum NSA-Skandal haben insbesondere die Forderungen der Grünen nach Steuererhöhungen und strengerer Regulierung verschiedener Lebensbereiche für ein Rauschen im Blätterwald gesorgt. So sah sich etwa die Bild-Zeitung vor kurzem genötigt, ihren Lesern erklären zu müssen, "was uns Trittin & Co alles verbieten wollen".

Im Bild-Artikel wird CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs mit einer Liste angeblicher Verbotspläne der Grünen zitiert. Kein Verkauf von Limonaden in Schulen mehr, Verbot von Zigarettenautomaten, Tempo 130 auf der Autobahn, eine Beschränkung auf ein fleischhaltiges Gericht pro Woche, Nachtflugverbot.

Vom politischen Gegner werden diese Vorschläge als Gängelung und Bevormundung verstanden. In seiner Wahrnehmung besteht das Ziel darin, die Freiheit der Bürger einzuschränken. Und in der Tat kann man darüber, ob die spezifisch vorgeschlagenen Verbote richtig oder falsch sind, trefflich streiten.

Was aber ist die grundsätzliche Denklogik hinter den geplanten Beschränkungen? Welche psychologischen Mechanismen stecken hinter den Begrenzungen und unter welchen Umständen könnten sie tatsächlich sinnvoll sein?

Langfristige Ziele durch Selbstbegrenzung erreichen

Jeder kennt Situationen, in denen man sich zwischen kurzfristigen Vorteilen und langfristigen Zielen entscheiden muss. Am Morgen versprechen Nutellabrötchen und Kaffee einen erfreulichen und schnellen Start in den Tag. Da erscheinen Vollkornbrot und ein Glas Milch ungleich unattraktiver, auch wenn wir wissen, dass sie vielleicht die langfristig gesündere Alternative wären.

Probleme dieser Art durchziehen das ganze Leben auf verschiedenen Ebenen. Ständig sind wir in Versuchung, den kurzfristigen Vorteil vorzuziehen, auch wenn er überproportional kleiner ist, als der langfristig zu erwartende Nutzen. In den Wirtschaftswissenschaften wird dieses Verhalten "hyperbolisches Diskontieren" genannt. Diskontieren bezeichnet dabei die Bewertung einer erwarteten zukünftigen Auszahlung in der Gegenwart. Eine Auszahlung von 100€ heute ist schließlich mehr wert als eine Auszahlung von €100 in einem Jahr. Wer nun aber hyperbolisch diskontiert - und das tut ein guter Teil der Bevölkerung -, der ist inkonsistent in seiner Bewertung zukünftiger Zahlungen und bewertet sie systematisch zu niedrig.

Eine mögliche Antwort auf derartige Impulse ist Selbstbeschränkung. Wer verhindern kann, den kurzfristigen Impulsen nachzugeben, noch bevor sie ihn ereilen, hat einen Teil des Problems gelöst.

Die Sage von Odysseus und den Sirenen illustriert diesen Ansatz: Auf seiner Reise muss Odysseus die Insel der Sirenen passieren. Sirenen sind weibliche Fabelwesen, die vorbeifahrende Seeleute mit ihrem Gesang zu betören versuchen. Erliegen die Seefahrer den Lockrufen, erwartet sie ein grausiges Schicksal. Odysseus will nun den Gesang der Sirenen hören, obwohl er weiß, dass er dadurch unter normalen Umständen zu Tode kommen wird. Seine Lösung: Er lässt sich von seiner Mannschaft (die ihre Ohren mit Wachs verschließen muss), an den Mast binden. Durch diese Selbstbeschränkung ist er in der Lage, dem Gesang zu lauschen, ohne dass er dem kurzfristigen Impuls, den Reizen der Sirenen folgend in seinen sicheren Tod zu gehen, nachgeben kann.

Sollten die Grünen nach der Wahl Regierungsverantwortung tragen, könnte es nun zum Beispiel passieren, dass Tempo 130 auf Autobahnen beschlossen wird. Eine entsprechende Änderung der Straßenverkehrsordnung wäre vom Wahlvolk demokratisch legitimiert. Der Souverän begrenzt also seinen eigenen zukünftigen Handlungsspielraum, indem er ungewünschtes eigenes Verhalten unter Strafe stellt - um Ziele wie Umweltschutz und Sicherheit zu gewährleisten und nicht in jedem Einzelfall vor der Wahl zu stehen: Lieber heute fünf Minuten früher ankommen oder doch langfristig den Klimawandel begrenzen?

Wenn Selbstbegrenzung nicht ausreicht

Unglücklicherweise ist eine solche Selbstbegrenzung aber kein Allheilmittel. Erstens macht Selbstbegrenzung heute schlicht keinen Spaß, weil der Nutzen ja erst zu einem späteren Zeitpunkt entsteht. Wer heute Rad fährt statt Auto, der rettet damit vielleicht die Welt für seine Kinder, verzichtet dafür aber heute selbst auf Bequemlichkeit. Und das ist natürlich zunächst unangenehm. Wer hat es schon gerne weniger bequem als vorher? Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass Menschen sich an die widrigsten Umstände gewöhnen. Der unmittelbare Effekt ist daher nicht von Dauer.

Viel schwerer wiegt der Umstand, dass die Verzichtenden auf einmal relativ zu ihren Mitmenschen ein umständlicheres Leben führen. Und dieser Effekt von sozialem Vergleich nutzt sich kaum ab. Wer also das Auto stehen lässt, den Einkauf aus dem Baumarkt mit dem Rad nach Hause balanciert, und dabei vom Nachbarn im SUV überholt wird, der fühlt sich nachvollziehbarerweise wie der Dumme.

Zweitens ist es häufig nicht ausreichend, sich selbst zu beschränken. In Fällen wie Umweltschutz genügt es oft nicht, wenn sich eine kleine Gruppe von Individuen selbst beschränkt und beispielsweise beschließt, auf PKWs zu verzichten. Die positiven Auswirkungen auf die Luftqualität wären in diesem Falle schlicht zu klein. Erst wenn alle mitmachen, kann das Ziel erreicht werden. Selbst wenn sich jedoch eine hinreichend große Gruppe findet, auf dass der Effekt spürbar wird, so ist dieser Zustand instabil. Schließlich profitieren auch diejenigen, die nicht auf ihr Auto verzichten, von der allgemeinen Verbesserung der Luftqualität. Warum sollte der Einzelne also mitmachen?

In den Politikwissenschaften wird dieses Problem als die Tragik der Allmende bezeichnet. Ein bekanntes weiteres Beispiel ist die Überfischung der Weltmeere, die sich ebenso wenig dadurch beenden lässt, dass ein einzelner Staat den Fischfang einstellt.

Auch unter diesem Aspekt sind gesetzliche Begrenzungen häufig eine effiziente Lösung, weil sie alle binden. Wenn ein allgemeines Nachtflugverbot herrscht, dann sind die Regeln klar. Keine Airline muss sich überlegen, ob sie freiwillig auf ein paar Nachtflüge verzichtet, damit die Anwohner nicht auf die Barrikaden gehen - und sich dabei über die andere Airline ärgern, die nicht verzichtet und trotzdem vom Frieden am Gartenzaun profitiert.

Sanfte Alternativen zu harten Gesetzen?

Ob nun die Vorschläge der Grünen sinnvoll sind oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber natürlich ist jede explizite Selbstbeschränkung, die durch Mehrheitsentscheid zu Stande kommt, potenziell ein Eingriff in die Freiheit der anders denkenden Minderheit. Was also tun?

In vielen Fällen könnte es die Möglichkeit geben, das anzuwenden, was die Forscher Richard Thaler und Cass Sunstein als "Nudges", zu Deutsch etwa "Stupse", bezeichnen. Sie empfehlen, mit psychologischen Methoden das Verhalten von Menschen im Durchschnitt gezielt zu beeinflussen, ohne dem einzelnen aber in letzter Konsequenz die Wahl zu nehmen.

So zeigen etwa Untersuchungen, dass Menschen in Auswahlsituationen sich stark von vorausgewählten Alternativen leiten lassen. In Ländern, in denen man explizit angeben muss, kein Organspender zu sein, sind zum Beispiel dramatisch viel mehr Menschen Organspender, als in Ländern, in denen man sich explizit für Organspende aussprechen muss - obwohl in beiden Fällen die identische Entscheidung zu treffen ist: Organspender oder nicht.

Das Verhalten anderer ist ebenso relevant: Empirische Ergebnisse zeigen, wie man Erinnerungsschreiben für noch nicht eingereichte Steuererklärungen effektiver gestaltet. Wenn nämlich die Schreiben einen Hinweis darauf enthalten, dass der Großteil der Bürger des Postleitzahlengebietes oder der Stadt ihre Steuererklärung bereits eingereicht haben, dann steigt ihre Wirksamkeit deutlich.

Im Vereinigten Königreich hat die Regierung von David Cameron das sogenannte "Behavioural Insights Team" ins Leben gerufen. Es soll die Erkenntnisse der Verhaltensforschung nutzen, um genau solche Nudges wie oben beschrieben zu implementieren. Und tatsächlich ist das Team derart erfolgreich, dass es inzwischen seine Dienste auch der freien Wirtschaft und ausländischen Regierungen anbietet.

Vielleicht bieten solche Nudges also tatsächlich eine versöhnliche Alternative zumindest für Ziele, auf die sich eigentlich fast alle einigen können, wie etwa Umweltschutz oder gesunde Ernährung: Zielerreichung durch Selbstbeschränkung; aber ohne Einbuße von Wahlfreiheit. Und zumindest wenn nicht gerade Wahlkampf herrscht, könnten damit vielleicht sogar die Herren Trittin und Fuchs leben.

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