Putin-Erdogan-Deal: Wohin die türkische Reise führt

Seite 2: Der Westen ist raus aus dem Spiel

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Das Schicksal Syriens bestimmen künftig Putin, Assad und Erdogan. Europa hätte eingreifen und Erdogan Einhalt gebieten können. Zum Beispiel, indem man eine Flugverbotszone oder Wirtschaftssanktionen verhängt. Aber weder Deutschland noch Frankreich oder Großbritannien konnten sich zeitnah auf eine gemeinsame Linie einigen. Es blieb bei verbalen Warnungen.

Dabei müsste seit mindestens zwei Jahren allen Global Playern klar sein, wohin die türkische Reise führt - in ein neo-osmanisches Reich. Das wurde immer wieder von türkischen Medien und von Erdogan angedeutet.

Zwar hat das Europaparlament in Straßburg am Donnerstag die einseitige Militärintervention der Türkei in Nordsyrien verurteilt, wirksame Sanktionen gegen die Türkei gefordert und sich in einer Resolution mit großer Mehrheit für eine Schutzzone unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Nordsyrien ausgesprochen. Eine bindende Wirkung haben Beschlüsse des EU-Parlaments allerdings nicht. Erdogan wird das deshalb wenig beeindrucken.

Der türkische Präsident hat nun mithilfe der USA und Russlands einen Etappensieg errungen. Damit wird er sich aber nicht zufriedengeben. Am Donnerstag präsentierte er im türkischen Fernsehen eine Karte von Nordsyrien und kündigte ethnische Säuberungen an: "Wichtig ist, dass der Lebensstil in dieser Region unter Kontrolle gehalten wird. Die am besten geeigneten Leute dafür sind Araber. Der Lebensstil der Kurden ist dafür nicht geeignet."

Das heißt, dass er ein friedliches, multiethnisches, demokratisches und gleichberechtigtes Zusammenleben von Männern und Frauen nicht wünscht.

Der Krieg, der etappenweise Eroberungsfeldzug, wird weiter gehen wie bisher: Erst wurde Dscharabulus kampflos vom IS übernommen, weil die Türkei sich mit dem IS abgesprochen hatte. Dann wurde mit Billigung Russlands und dessen Freigabe des Luftraums für türkische Kampfbomber Afrin erobert und zu einem türkischen Protektorat ausgebaut.

Nun wurde wieder ein 120 km langer und 32 km breiter Streifen unter türkische Herrschaft gestellt, der nach dem Vorbild von Afrin türkisiert und islamisiert wird. Diesmal ist das sowohl von Russland wie von den USA gemeinsam abgesegnet worden. Aber das wird noch nicht das Ende sein.

Erstmal wird Erdogan dort die türkischen Strukturen etablieren: Die türkische Wohnungsbaugesellschaft TOKI soll auf dem Terrain der vertriebenen Bevölkerung neue Häuser bauen, das türkische Telefonnetz wird installiert und das Schulsystem wird türkisch-islamistisch umgestellt. Danach wird sich Erdogan das nächste Gebiet vornehmen. In Frage käme das strategisch wichtige Gebiet der Kommune Derik ganz im Nordosten Syriens an der irakischen Grenze.

Von Derik aus fliehen viele Familien über den Grenzübergang Semalka in den Nordirak. Die irakisch-kurdische Agentur Rudaw berichtet von über 1.000 Flüchtlingen täglich, die den Tigris überqueren. Mehr als 10.000 Flüchtlinge sollen bereits innerhalb weniger Tage in den eilig errichteten Lagern angekommen sein. Derik ist eine der Städte, die mit vielen Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern an der türkischen Grenze konfrontiert ist.

Dort ist das Alltagsleben zum Erliegen gekommen, die Geschäfte des Basars sind geschlossen, die Kinder werden aus Angst vor den nächsten Angriffen nicht mehr zur Schule geschickt. Derik ist die Partnerstadt des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Im Juni dieses Jahres waren die beiden Ko-Bürgermeister der Stadt, Rojin Ceto und Feremez Hammo zur Unterzeichnung der Städtepartnerschaftsurkunde in Berlin. Es wurden viele Projekte im ökologischen und sozialen Bereich vereinbart, deren Umsetzung nun gestoppt werden musste.

Der Deutschlandfunk brachte im Juni ein Feature über die Familie des Ko-Bürgermeisters, in dem die Familie noch ganz optimistisch klang. Heute, sechs Monate später, ist nur noch Angst und Wut übriggeblieben. Die Menschen fühlen sich von der Welt vergessen und verraten.

Würde Derik unter türkische Kontrolle geraten, gäbe es keinen Fluchtweg mehr aus Nordsyrien in das irakische Kurdistan. 30 bis 40 km weiter südlich von Derik ist jener Korridor, den die YPG/YPJ 2014 freigekämpft hatten, damit die vom IS eingekesselten Eziden (Jesiden) vom Berg Shengal fliehen und in Flüchtlingscamps bei Derik gebracht werden konnten. Die Türkei und ihre dschihadistischen Söldner könnten dann problemlos durch das wenig besiedelte Gebiet in den Shengal im Nordirak und in die dahinter liegende Ninive-Ebene bis nach Mossul vordringen. Man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, was dann mit den dortigen Christen und Jesiden passiert.