Putin, das politische Überraschungsei

Am Samstag unterzeichnete Putin ein Dekret, mit dem Russland den KSE-Vertrag ausgesetzt hat

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Schon im April dieses Jahres, als er seine letzte Rede zur Lage der Nation hielt, drohte der russische Präsident mit diesem Schritt. Dennoch zeigten sich die westlichen Staaten von diesem Entschluss überrascht. Dies dürfte auch daran liegen, dass Putin in den letzten Wochen eher versöhnlichere Töne anschlug – sowohl in Heiligendamm, als auch bei seinem Staatsbesuch in den USA machte er George Bush Angebote zur Zusammenarbeit. Diese waren für die Weltöffentlichkeit ebenso überraschend, wie das am Samstag unterzeichnete Dekret. Mit dieser Politik beweist Putin, welch ein undurchschaubarer und schwer einzuschätzender außenpolitischer Partner er ist.

Von Wladimir Putin kennt man viele Gesichter. Noch vor über sieben Jahren war er der große Unbekannte, der über Nacht aus dem riesigen Menschenreservoir des sowjetischen Geheimdienstes KGB an die Spitze des damals maroden russischen Staates gelangte. Dort angekommen, gab sich Putin innenpolitisch als der starke Mann, der mit aller Härte gegen tschetschenische Separatisten und Oppositionelle vorging, und außenpolitisch als ein zuverlässiger Partner, der sein Gas und Öl gerne in den Westen verkaufte.

Ökonomisch tat Russland diese Politik gut. Seit Jahren erlebt das größte Land der Erde einen enormen wirtschaftlichen Wachstum, auch deshalb, weil Preis und Nachfrage für Rohstoffe gleichermaßen stiegen. Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder erkannte jedenfalls die neue Bedeutung Russlands, und da er Putin auch sympathisch fand, scheute er sich nicht, den russischen Präsidenten als einen „lupenreinen Demokraten“ zu bezeichnen – eine Aussage, an der der jetzige Gasprom-Mitarbeiter Schröder, trotz aller Kritik, bis heute festhält.

Seit Februar dieses Jahres kennt die Welt nun aber auch die zornige Seite Putins. Fast wie in alter Chruschtschow-Manier, nur ohne mit einem Schuh auf das Rednerpult einschlagend, schimpfte das russische Staatsoberhaupt über die USA. Er kritisierte die amerikanischen Pläne, in Polen und der Tschechischen Republik ein Raketenfrühwarnsystem zu errichten und warf den USA gleichzeitig Imperialismus und ein neues Wettrüsten vor. Als der Kreml einige Wochen darauf ankündigte, über einen Ausstieg aus dem KSE-Vertrag nachzudenken, sprach die Weltöffentlichkeit immer lauter von einem neuen Kalten Krieg.

Auch die NATO zeigte sich über die neuen aggressiven Töne aus Moskau beunruhigt. Als Ende Juni in Moskau der NATO-Russland-Rat tagte, nutzte NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer deshalb die Gelegenheit und erinnerte daran, dass es trotz aller momentanen Differenzen keine Alternativen zu einer Partnerschaft zwischen der NATO und Russland gebe. Gleichzeitig mahnte de Hoop Scheffer auch die USA und Russland, die „scharfen und aggressiven Töne“ zu unterlassen und stattdessen sachlich zu diskutieren.

Die Präsidenten Wladimir Putin und George Bush müssen sich die Worte des NATO-Generalsekretärs zu Herzen genommen haben, denn ihr zweites Treffen innerhalb eines Monats verlief, zumindest nach außen hin, sehr harmonisch. Nach Kennebunkport, wo seine Familie seit dem 19. Jahrhundert ihre Ferienresidenz hat, lud George Bush Anfang Juni seinen russischen Amtskollegen ein. Sie unternahmen eine Angeltour, ließen sich von Bush sr. auf ein Motorboot entführen und genossen abends so manche kostbare Meeresdelikatesse.Wie zwei alte Kumpels auf einem Wochendausflug wirkten die zwei Staatsoberhäupter, so sehr, dass die vom Kreml kontrollierte Presse meinte, die Atmosphäre allein beweise, wie weit Russland und die USA von einem neuen Kalten Krieg entfernt sind.

Besonders charmant und entgegenkommend zeigte sich in Kennebunkport Wladimir Putin. Während er noch vor wenigen Wochen gegen das Raketenabwehrsystem wetterte, machte er dem US-Präsidenten einen neuen Vorschlag zur Zusammenarbeit und „überrumpelte“, wie die "Washington Post" kommentierte, George Bush somit ein zweites Mal. Schon bei dem G8-Gipfel in Heiligendamm, als die Welt ein weiteres konfliktbeladenes Zusammentreffen der zwei Präsidenten erwartete, überraschte Putin seinen amerikanischen Amtskollegen und bot ihm an, gemeinsam eine Radaranlage zu betreiben. Als Standort schlug Putin das aserbaidschanische Gabala vor, wo die Russen schon seit Jahren ein solche Anlage unterhalten. Bush nannte dies einen „interessanten Vorschlag“, ging aber erwartungsgemäß nicht weiter darauf ein (US-Raketenabwehrsystem spaltet Europa und schürt Konflikt mit Russland).

Bei seinem Besuch in den USA kam Putin noch einmal Bush entgegen und schlug eine weitere Option vor. Neben der Radaranlage in Gabala könne man auch eine Frühwarnstation über Raketenstarts, die gerade in Südrussland gebaut wird, gemeinsam betreiben, was die Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa unnötig machen würde. Zudem schlug Putin gegenseitige Konsultationen über die Raketenabwehr vor, alles im Rahmen des NATO-Russland-Rats, in die auch interessierte europäische Staaten eingebunden werden sollten.

Inwieweit die Vorschläge Putins ernst gemeint waren oder ob es sich nur um eine Fortsetzung der russischen Symbolpolitik handelt, die der Kreml perfekt beherrscht (Mit Symbolpolitik in einen neuen kalten Krieg?), ist schwer zu sagen. Was man jedoch erkennen kann, ist das ambivalente außenpolitische Verhalten Russlands. Während Putin mit seinen Angeboten versöhnliche Töne anschlug und dadurch schon manche glauben ließ, die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen entspannen sich, waren aus Moskau auch andere Stimmen zu vernehmen.

Nur zwei Tage nach Putins überraschendem Vorschlag, scheute sich Sergej Iwanow nicht, neue Drohungen gegen den Westen auszusprechen. Während seines Besuchs im usbekischen Taschkent, bekräftigte der Erste Stellvertretende Ministerpräsident, wie Iwanows offizielle Amtsbezeichnung lautet, zwar noch einmal Putins Angebot und verwies darauf, dass die von Putin vorgeschlagene Radaranlage im südrussischen Armawir mit modernster Technik ausgestattet wird. Zugleich warnte er aber auch vor Konsequenzen, falls die USA auf das Angebot Russlands nicht eingehen sollten. In diesem Fall wäre laut Iwanow auch schon „eine asymmetrische und effektive Antwort gefunden“.

Wie diese aussehen würde, verriet der als Nachfolger Putins gehandelte Iwanow auch: „Russland würde gezwungen sein, neue Raketenverbände zu stationieren, um Gefahren abzuwehren, wenn die Stationierung der Raketenabwehrbasen in Polen und Tschechien beschlossen wird.“ Als Standort für diese neuen Raketenverbände nannte Iwanow das Gebiet Kaliningrad, also in unmittelbarer Nähe zu Polen.

Auf diplomatischer Ebene sorgten diese Aussagen für Unstimmigkeiten. Dass die Äußerungen Iwanows, verbunden mit den Angeboten Putins, aber einen erpresserischen Charakter hatten, zeigte sich an diesem Wochenende. Für den Westen durchaus überraschend, obwohl schon von Putin im April angekündigt, unterzeichnete der russische Präsident am Samstag ein Dekret, mit dem Russland den KSE-Vertrag ausgesetzt hat. „Das russische Moratorium bedeutet nicht, dass wir den Weg zum weiteren Dialog zumachen“, beschwichtigte das russische Außenministerium in einem Kommunique, doch dafür müsste der Westen Russland erst entgegenkommen.

Dies dürfte sich aber als schwierig erweisen. Die NATO und die westlichen Regierungen zeigten sich über die Entscheidung Putins besorgt, doch ob sie wirklich kompromissbereit sind, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ist fraglich. Vielmehr zeigt die russische Regierung, dass sie mit ihrem Hin und Her ein eher unzuverlässiger Partner ist, bei dem man nicht weiß, ob die Vorschläge und Angebote ernst gemeint sind oder nicht. Mit diesem Verhalten, welches einem Halbstarken ähnelt, schadet Putin aber nur Russland. Innenpolitisch mögen diese Töne zwar gut ankommen und seine Sympathiewerte steigen lassen, die außenpolitischen Konsequenzen müsste aber sein Nachfolger ausbaden. Doch dies dürfte Putin egal sein, denn im nächsten Jahr ist er nur noch Präsident a. D. Einer, der Russland wirtschaftlich und politisch neuen Glanz verlieh und als Abschiedsgeschenk die Winterolympiade 2014 nach Sotschi holte.