"Putin laviert zwischen Patrioten und Liberalen"
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Der Moskauer Wirtschaftswissenschaftler Vasily Koltashov über die "patriotische Opposition", die Liberalen und die Krise in Russland
Mitte letzter Woche fand das "Moscow Economic Forum 2016" statt, auf dem die russische Regierung scharf kritisiert und eine stärkere Unterstützung der russischen Industrie durch günstige Kredite gefordert wurde ("Moskauer Wirtschaftsforum" nimmt russische Regierung in die Mangel). Vasily Koltashov, Leiter des Zentrums für ökonomische Forschungen im Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen, meint, unter dem Eindruck von Sanktionen und Wirtschaftskrise werde nicht nur die Bevölkerung unruhiger. Auch der Streit in der russischen Elite über den weiteren Kurs - Versöhnung mit dem Westen oder eigenständige Richtung - werde zunehmen.
Wie ist es zu erklären, dass in Moskau ein Wirtschaftsforum durchgeführt wird, auf dem die Macht derart hart kritisiert wird?
Vasily Koltashov: Es gibt in Russland zwei Lager der Opposition. Das liberale Lager hat die Unterstützung der EU und der Vereinigten Staaten und zeitweise der russischen Macht. Außerdem gibt es eine patriotische Opposition, welche die liberale Opposition hasst. Und die liberale Opposition hasst die patriotische Opposition.
Was meinen sie mit "patriotischer Opposition"?
Vasily Koltashov: Die patriotische Opposition ist eine neue Erscheinung in Russland. Sie entstand nach 2008, vor allem durch die die globale Krise. Die Hauptkritik der patriotischen Opposition bezieht auf soziale und ökonomische Fragen und nicht Fragen der Wahlen oder der Menschenrechte oder der Außenpolitik. Die patriotische Opposition entstand wegen der Krise des auf Rohstoffexport ausgerichteten russischen Kapitalismus.
Kann man sagen, dass das Wirtschaftsforum eine Versammlung von Nationalliberalen, Konservativen und Linken war?
Vasily Koltashov: Ich kann sagen, dass es auf dieser Versammlung praktisch keine Liberalen gab.
Das "Moscow Economic Forum" tagt seit 2013 jedes Jahr. Hat es dieses Jahr etwas Neues gegeben?
Vasily Koltashov: Das Wirtschaftsforum befindet sich in einer Krise. Es ist wichtig, aber es entwickelt sich nicht. Jahr für Jahr werden die gleichen Erklärungen abgegeben.
Was fehlt?
Vasily Koltashov: Ein konkreter Plan, wie das Land aus der Krise geführt werden kann, und ein Plan, welcher der Bevölkerung verständlich ist. Die Menschen sind zunehmend mit der Krise konfrontiert. Das Lebensniveau sinkt. Die realen Monatslöhne in den Regionen sind in den letzten eineinhalb Jahren von durchschnittlich 20.000 auf 15.000 Rubel (197 Euro, U.H.) gesunken. Aber auch in Moskau hört man schon von Gehältern in Höhe von 20.000 Rubel (263 Euro, U.H.).
Die Menschen sind sehr besorgt. Sie wollen eine Wirtschaftspolitik, die ihr Lebensniveau erhöht, sie von der Arbeitslosigkeit und dem Wertverlust des Geldes schützt. Aber auf dem Moskauer Wirtschaftsforum hören sie, dass man die Industrie unterstützen muss, dass es billige Kredite für die Industrie geben muss und man stärkere Anstrengungen zur Re-Industrialisierung Russland durchführen muss. Das ist den Russen nicht ganz verständlich.
War das Noworossija ein Thema?
Vasily Koltashov: Sehr verständlich auf diesem Forum war die Diskussion über Novorossija, den Aufstand in der Ukraine. In dieser Diskussion wurde gesagt, dass sich Russland im Konflikt mit der EU und den Vereinigten Staaten befindet. Doch es wird nicht gesagt, dass es sich dabei um einen Konflikt zwischen neoliberaler Politik in Europa und auch in Russland und den Interessen der Gesellschaften der Länder handelt, dass es in Europa und Russland die gleichen Interessen gibt, das Interesse der industriellen und kulturellen Entwicklung aller europäischen und eurasischen Länder.
Der recht populäre Wirtschaftsberater von Putin, Sergej Glasew, forderte auf dem Wirtschaftsforum die Erhöhung der Geldmenge.
Vasily Koltashov: Glasew ist populär, aber er hat ziemlich eigenartige Ansichten. Er meint zum Beispiel, der Rubel sei unterbewertet. Er hat Unrecht. Der Rubel ist überbewertet, weil der Binnenmarkt zerstört wird. Wenn der Ölpreis weiter sinkt, wird der Rubelkurs ebenfalls weiter sinken. Die Zentralbank hält den Rubel auf einer starken Position im Verhältnis zur schlechten Wirtschaftslage. Glasew meint, eine Erhöhung der Geldmenge werde keine negativen Auswirkungen haben, weil der Rubel unterbewertet sei. Ich meine, dass wenn die Erhöhung der Geldmenge nicht mit einer Erhöhung der Nachfrage nach russischen Waren einhergeht, wird das zu einer erhöhten Inflation führen.
"Russland soll sich mit dem Westen vertragen, sagt die Mittelschicht"
Was wollen die Liberalen und die Patrioten in Russland für eine Wirtschaftspolitik?
Vasily Koltashov: Die Angehörigen der Moskauer Mittelschicht und die Büroangestellten meinen, Russland müsse sich mit dem Westen vertragen. Dann werde sich die Wirtschaft gut entwickeln. So sagen es auch die liberalen Medien. Die patriotischen Medien können die Menschen nicht überzeugen, dass sich ihre Lage durch die Unterstützung der Industrie verbessert.
Was schlagen Sie vor?
Vasily Koltashov: Unser "Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen" hat einen konkreten Plan vorgelegt. Wir schlagen ein staatliches Programm vor, welches den Bau von Wohnungen für die Bürger zu günstigen Hypotheken-Kredite von ein bis drei Prozent vorsieht. Dieses Wohnungsbau-Programm soll mit russischen Baumaterialien, russischen Baumaschinen und russischen Arbeiten durchgeführt werden. Wir schlagen vor, neue Straßen und Eisenbahnlinien zu bauen und den öffentlichen Nahverkehr zu erneuern.
Wie soll das finanziert werden?
Vasily Koltashov: Zum einen hat Russland noch beachtliche finanzielle Reserven und zum anderen durch die Erhöhung der Geldmenge. Dieses Bauprogramm wird ein Wirtschaftswachstum auslösen, welches Geld in die staatlichen Kassen spülen wird.
Sie haben gerade Putins Wirtschaftsberater Glasew wegen seinem Plan zur Erhöhung der Geldmenge kritisiert.
Vasily Koltashov: Wir sind für die Erhöhung der Geldmenge nur als ersten Anstoß für das Wachstum. Wir wollen nicht einfach den Industriellen Geld geben. Wir wissen dass die Industriellen gerne billige Kredite haben wollen. Heute würden billige Kredite aber nur zu einer Erhöhung der Inflation führen, weil sich die Krise schon auf einem hohen Niveau befindet. Auch wenn der Leitzins jetzt gesenkt wird, wird das zum Anwachsen der Inflation führen.
Auf dem Wirtschaftsforum gab es Katastrophen-Szenarien. Man bekam den Eindruck, dass die Wirtschaft bald zusammenbricht, wenn es keine Unterstützung der russischen Industrie gibt. Sind das Übertreibungen?
Vasily Koltashov: Ich glaube, dass die Wirtschaft so oder so zusammenbricht. Die Industrie in Russland entwickelt sich wirklich schlecht. Die Produktion geht zurück. Teilweise gibt es Entlassungen. Teilweise wurde Kurzarbeit eingeführt. Oftmals wurden die Löhne gekürzt. Die Arbeitslosigkeit ist jedoch mit sechs Prozent nicht besonders hoch. Der Grund für die niedrige Arbeitslosigkeit sind die sehr niedrigen Löhne.
Gab es auf dem Wirtschaftsforum konkrete positive Ergebnisse?
Vasily Koltashov: Ein positives Ergebnis war das klare Bekenntnis zu einer protektionistischen Politik. Das heißt Russland muss aus der Welthandelsorganisation (WTO) aussteigen. Meiner Meinung nach müsste man als weiteren Schritt noch eine Stärkung der Eurasischen Union als Alternative zur Europäischen Union anstreben. Die Eurasische Union darf sich aber nicht nach dem Modell der EU entwickeln, das heißt mit einer Hierarchie an deren Spitze Deutschland und darunter Frankreich und vielleicht Italien steht. Und danach kommen Polen, Rumänien und Ungarn, Staaten dritter und vierter Rangordnung, die von EU mehr Nach- als Vorteile haben.
Die Mitglieder der Eurasischen Wirtschafts-Union und der Zollunion (Russland, Weißrussland, Armenien, Kirgistan, Kasachstan, U.H.) haben derzeit keine konkreten Vorteile von dem wirtschaftlichen Zusammenschluss.
Vasily Koltashov: Die Eurasische Wirtschafts-Union und die Zollunion wurden im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) gebildet. Der Eintritt Russlands in die WTO macht die Eurasische Union sinnlos. Die Eurasische Union hat nur als Organisation einen Sinn, die in aktiver Konkurrenz mit der EU um Einflusssphären konkurriert. Denn die EU betreibt eine aktive Expansionspolitik Richtung Osten. Die EU-Bürokratie hat 2013/14 die Ukraine gewonnen. Russland hat sich die Krim genommen. Für den Donbass reichte der Mut nicht. Offen ist, wer Weißrussland in seinen Einflussbereich zieht. Und die Auswechslung von Putin durch eine Person, welche die Anordnungen von außen ausführt, steht auch auf der Tagesordnung.