Putins Winterstrategie: Ukraine durch Zerstörung unbewohnbar machen

Panzer auf einem schneebedeckten Acker

Dezember 2023: 41. Mechanisierte Brigade der Streitkräfte der Ukraine in der Region Charkiw. Bild: shutterstock.com

Ukraine-Krieg: Langsamer Vormarsch der russischen Armee, Einkesselungen und Zerstören der Energieversorgung. Ukrainische Verteidigung vor demografischem Problem. Eine Einschätzung.

Die Industriestadt Pokrowsk ist für die Ukraine von zentraler militärischer Bedeutung: Von hier aus versorgt die Armee einen großen Teil ihrer Truppen im Donbass.

Ein Verlust der Stadt würde die ukrainischen Streitkräfte empfindlich treffen – ihre Fähigkeit, Soldaten und Material schnell an die Front zu bringen, wäre stark eingeschränkt.

Genau deshalb rückt Pokrowsk ins Visier der russischen Militärführung. Die Eroberung dieses logistischen Drehkreuzes könnte die ukrainische Verteidigung im gesamten Donbass schwächen.

Obwohl russische Einheiten bis auf 1,7 Kilometer an den Großraum Pokrowsk herangerückt sind, ist keine schnelle Eroberung der Stadt zu erwarten. Der Grund dafür liegt überraschenderweise nicht in der bevorstehenden Schlammperiode oder dem Winter.

Offensiv in der kalten Jahreszeit

Die russische Armee hat bereits gezeigt, dass sie auch in der kalten Jahreszeit offensiv agieren kann: Seit Oktober vergangenen Jahres führt sie ununterbrochen Angriffe durch – auch mitten im Winter. "General Winter" dürfte daher kaum eine Rolle spielen. Die russischen Streitkräfte werden ihre Offensiven vermutlich auch in den kommenden Wintermonaten fortsetzen.

Karte: Screenshot Deepstatemap

Stattdessen zeigt der bisherige Verlauf des Krieges in der Ukraine, dass die russische Führung in der Regel risikoreiche schnelle Stöße ohne Flankensicherung vermeidet.

Zwar gab es Ausnahmen: Bei Wuhledar, das kürzlich erobert wurde, zahlten die russischen Streitkräfte in der Vergangenheit einen hohen Preis für ihre ungesicherten Panzervorstöße. Erst eine monatelange, methodische Annäherung an die Stadt inklusive Flankensicherung brachte schließlich den Erfolg.

Bei Otscheretyne hingegen gelang ihnen mit einem schnellen, riskanten Stoß ein wichtiger Durchbruch durch die ukrainischen Linien.

Vorsichtige Vorwärtsstrategie statt riskanter Vorstöße

Statt riskanter Vorstöße verfolgt das russische Militär also eher eine vorsichtige Vorwärtsstrategie, die Streitkräfte setzen in der Ukraine auf eine bedächtige Vorgehensweise. Statt schneller, gezielter Vorstöße an einzelnen Frontabschnitten wählen sie einen breiten, methodischen Vormarsch.

Diese Strategie hat einen klaren Grund: Die Truppen sollen nicht zu weit in feindliches Gebiet vordringen und dadurch verwundbar werden. Denn schmale, weit vorgeschobene Angriffsspitzen können leicht vom Nachschub abgeschnitten werden – ein gefährliches Szenario, das die russische Führung offensichtlich vermeiden will.

Stattdessen rücken die Streitkräfte auf breiter Front langsam vor und sichern dabei sorgfältig ihre Flanken. Diese Taktik ist weniger spektakulär, minimiert aber das Risiko, dass einzelne Truppenteile isoliert und von ukrainischen Gegenangriffen eingekreist werden.

Einkesselungstaktik vor Pokrowsk

Dieses Vorgehen zeigt sich aktuell auch vor Pokrowsk: Statt die Stadt direkt anzugreifen, haben sich die Kampfhandlungen etwa zwölf Kilometer südlich nach Selydowe verlagert. Die Strategie folgt dem bewährten Muster: Erst wenn alle Flanken gesichert sind, wagt die russische Armee den nächsten Schritt – ein Ansatz, der ukrainische Gegenangriffe und mögliche Einkesselungen von vornherein verhindern soll.

Selydowe war vor dem Krieg eine bedeutende Bergbaustadt mit 23.000 Einwohnern. Es handelt sich um eine sogenannte Siedlung städtischen Typs, die sich durch eine größere Anzahl von mehrgeschossigen Wohngebäuden auszeichnet, eine Tatsache, die sie für die Verteidigung besonders geeignet macht.

Doch jetzt haben russische Kräfte die Bergarbeiterstadt operativ eingekesselt, die Siedlung steht kurz vor dem Fall.

Gefahr der Isolation für ukrainische Verteidiger

Im Süden von Selydowe ist die russische Armee bis unmittelbar vor das Dorf Wyschnewe vorgerückt, entlang der Eisenbahnstrecke nach Pokrowsk. Im Norden stehen russische Truppen etwa 800 Meter von der Autobahnausfahrt der E50 entfernt, die nach Selydowe führt.

Damit verbleibt den ukrainischen Verteidigern nur noch ein unbefestigter Feldweg, der noch einigermaßen sicher für die Logistik in die Stadt hinein zur Verfügung steht.

Laut der ukrainischen Quelle Militaryland verteidigen zwei Brigaden und ein Bataillon die Stadt, das wären bei voller Stärke der Verbände um die 9.000 Soldaten – das ist ein zu großer Verband, um nur über einen Feldweg sicher versorgt werden zu können.

Damit droht Seydowe dasselbe Schicksal wie bei anderen gefallenen Städten. Das Muster wiederholt sich: Wie zuvor bei Wuhledar, Awdijiwka und Bachmut schnüren russische Truppen auch Seydowe systematisch ab. Die letzten Versorgungswege der ukrainischen Verteidiger liegen jetzt unter ständigem russischem Beschuss.

Diese Taktik der operativen Einkesselung führte bereits bei den drei anderen genannten Städten zur russischen Eroberung – die Verteidiger mussten sich schließlich zurückziehen, als der Nachschub nicht mehr gesichert war.

Mit dem Fall von Selydove wären damit im südlichen Abschnitt der Pokrowsker Front die Voraussetzungen für einen Angriff auf den Großraum Pokrowsk gegeben und die russischen Flanken für diesen ausreichend gesichert.

Mögliche Szenarien für die Zukunft

Doch im nordöstlichen Bereich der Pokrowsker Front ist die Flanke für einen Angriff auf die Agglomeration Powrowsk noch nicht gesichert. Ein Blick auf die bisherige Taktik lässt vermuten: Die russischen Streitkräfte dürften kaum direkt die Großstadt angreifen, solange ihre nordöstliche Flanke ungesichert ist.

Folgt man dieser Logik, wäre ein anderes Szenario denkbar: Die russische Armee könnte zunächst versuchen, ihre Front bis zur Fernstraße T 0504 vorzuschieben – jene wichtige Verbindung, die von Pokrowsk über Kostjantyniwka nach Tschassiw Jar führt.

Dies ist jedoch nur eine mögliche Interpretation der Lage, basierend auf dem bisherigen Muster der russischen Kriegsführung, riskante Vorstöße ohne Flankensicherung zu vermeiden.

Allerdings lassen jüngste Vorstöße der russischen Armee bei Tschassiw Jar diese Theorie zu. In den letzten Wochen gelang den russischen Streitkräften dort die Überquerung des Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanals auf breiter Front südlich und nördlich von Tschassiw Jar und damit auch hier die militärische Sicherung der Flanken.

Bedeutende Geländegewinne bei Tschassiv Jar

Nach Angaben des Telegram-Kanals Suriyakmaps haben russische Streitkräfte erst in den vergangenen sechs Tagen die erste Verteidigungslinie der strategisch wichtigen Stadt Tschassiv Jar durchbrochen und kontrollieren mittlerweile etwa 30 Prozent des Stadtgebiets.

Nach der Einnahme der westlichen Anhöhen bei Kalinivka gelang es den Angreifern, durch das Waldgebiet vorzustoßen und das Druschba-Kinderlager sowie angrenzende Schützengrabensysteme am Pivnichnyi-Teich unter ihre Kontrolle zu bringen. In einer schnellen Offensive über sechs Tage eroberten die russischen Einheiten nahezu den gesamten Stadtteil, der sich vom Kanal bis zur Straße "Provulok Mayakovsʹkoho" erstreckt.

Trotz vereinzelter ukrainischer Widerstandsnester in Kellern und Häusern zeichnet sich eine bedrohliche Entwicklung für die Verteidiger ab. Die russischen Streitkräfte setzen auf eine Einkreisungstaktik von Nord und Süd, ähnlich der Situation in Selydove.

Die ukrainische Armee verschanzt sich derzeit im Stadtzentrum sowie in den stark befestigten Waldgebieten. Aufgrund der strategischen Höhenlage der Stadt wird mit erheblichem Widerstand gerechnet. Ein Verlust von Tschassiv Jar würde die Städte Kostiantynivka, Toretsk im Süden und Kramatorsk im Norden militärisch exponieren.

Falls die russische Armeeführung tatsächlich auf ebenso breiter Front den Angriff auf Pokrowsk vorbereitet, wie weiter oben spekuliert, so würde der Weg nach Pokrowsk über Tschassiw Jar und Kostjantyniwka führen. Kostjantyniwka ist mit einer Vorkriegsbevölkerung von ca. 70.000 Einwohnern fast so groß wie Pokrowsk.

Im Süden haben sich die Truppen bereits bis auf 15 Kilometer an Kostjantyniwka herangearbeitet, dort stehen sie im Zentrum der Kleinstadt Torezk. Die russische Führung scheint also ihre Truppen in einer Zangenbewegung langsam von zwei Seiten auf Kostjantyniwka vorrücken zu lassen, einmal aus Richtung Torezk und einmal aus Richtung Tschassiw Jar.

Doch selbst wenn die Kampfkraft der ukrainischen Verteidiger weiter geschwächt wird, kann der russische Vormarsch noch viele Monate dauern, um das erklärte Ziel, die Eroberung des Donbass, zu erreichen – zu groß sind die im Donbass der Ukraine noch verbliebenen Städte.

Die Herausforderung des Winters

Allerdings steht die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine infrage, denn mit der extremen strategischen Luftkampagne der russischen Angreifer, die sich vornehmlich gegen die Energieinfrastruktur des angegriffenen Landes richtet, wird der jetzt vor der Türe stehende Winter für die ukrainische Zivilbevölkerung und auch für das Militär sehr hart werden.

Das Wall Street Journal merkt dazu an:

Russlands Kriegsführung zielt auch darauf ab, die Ukraine unbewohnbar zu machen. Russische Raketen- und Drohnenangriffe haben große Teile des ukrainischen Energienetzes, darunter auch Kraftwerke, lahmgelegt.

Dies könnte in diesem Winter viele Ukrainer dazu bringen, außerhalb des Landes Zuflucht zu suchen, wenn es zu größeren Strom- und Wärmeausfällen kommt.

Wall Street Journal

Der Artikel zeichnet ein alarmierendes Bild: In den von Kiew kontrollierten Gebieten leben demnach bereits jetzt nur noch 25 bis 27 Millionen Menschen. Der bevorstehende Winter könnte diese demografische Krise noch verschärfen – vor allem wegen der weitgehend zerstörten Wärmeversorgung droht eine weitere Abwanderung.

Diese Entwicklung wirft eine zentrale Frage auf: Kann die Ukraine noch genügend Soldaten mobilisieren, um nur ihre Verluste auszugleichen?

Selbst unter der hypothetischen Annahme, dass westliche Waffenlieferungen zunehmen sollten, könnte der starke Bevölkerungsrückgang zum entscheidenden Faktor werden, der eine Fortsetzung der Kampfhandlungen schwierig erscheinen lässt.