Querdenker heute und einst: Wenn ein Wort erst mal "verbrannt" ist
Über eine Selbstbezeichnung, die nicht einfach so "zum Schimpfwort mutiert" ist
"Querdenker" sind nicht mehr das, was sie mal waren – jedenfalls wollen viele, für die das Wort früher positiv besetzt war, heute nichts mit der Bewegung zu tun haben, die es in der Corona-Krise als Selbstbezeichnung gewählt hat. Das Wort ist für sie "verbrannt"; oder sie wollen sich zumindest nicht ohne abgrenzende Erläuterung so nennen.
Das brachte neulich ein älterer linker Aktivist aus Bayern in einer Online-Diskussion auf den Punkt: "Ich beobachte seit geraumer Zeit, was das für Leute sind, die da für sich in Anspruch nehmen, 'Querdenker' zu sein. Dabei habe ich festgestellt, dass es andere sind als die, die man früher, also vor Corona-Zeiten, für Querdenker hielt. Querdenker waren immer die Rebellischen, die Nonkonformisten und die Altruisten."
Letztere habe man früher auf Demos getroffen, an denen weder Neonazis, noch "Reichsbürger" oder Verschwörungsmystiker teilgenommen hätten. "Auch diese Corona-Querdenker hätte man früher bei Querdenkerdemos nicht gesehen", meint er – was sicherlich auf die Mehrheit, aber nicht auf alle zutrifft. Laut einer Studie kommt die Bewegung zumindest teilweise von links, bewegt sich aber nach rechts.
An der Wahlurne sollen zumindest 18 Prozent der heutigen "Querdenker" 2017 noch für Die Linke gestimmt haben – was natürlich nicht heißt, dass diese 18 Prozent aktive Linke waren. "Corona-Querdenker" hätten sich immer im Hintergrund gehalten, wenn es darum gegangen sei, für die Entrechteten und Benachteiligten einzutreten, so der bayerische Aktivist.
Mit Benachteiligten meint er sowohl Geflüchtete als auch Menschen, die schon länger hier leben, aber trotzdem kein Wahlrecht haben oder wegen ihrer Hautfarbe immer noch als "Ausländer" gelesen werden, sowie Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke, die sich mit der Hartz-IV-Bürokratie herumschlagen müssen – oder auch LGBTI, die heute zwar mehr Rechte haben als noch vor wenigen Jahren, aber in Teilen der Gesellschaft immer noch diskriminiert werden.
Wer das Wort in Verruf gebracht hat
Menschen, die sich als "neue Juden" betrachten, weil sie sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen und deshalb von mehr staatlichen Einschränkungen betroffen sind, meint er damit nicht. Eine solche Gleichsetzung ist für "alte" Querdenker, die sich nicht zu den neuen verirrt haben – denn ein paar gibt es da schon – völlig inakzeptabel.
Sie ist aber unter "Corona-Querdenkern" weit verbreitet. Insofern ist das Wort nicht einfach so "zum ultimativen Schimpfwort mutiert", wie Georg Meggle unlängst in einem Telepolis-Beitrag schrieb. Es ist durch die Selbstbezeichnung einer Gruppe, die wirre, teils antisemitische oder mindestens geschichtsvergessene Thesen vertritt, in Verruf gebracht worden.
Klar, sie sind nicht alle stramm rechts – und die wenigsten leugnen die bloße Existenz des Coronavirus. Insofern ist der Ausdruck "Coronaleugner" für sie eine Steilvorlage, sich als Opfer einer politisch-medialen Hetzkampagne zu fühlen und darzustellen. Mit solchen Ungenauigkeiten liefern ihnen Medienschaffende nur "Munition", um Freunde oder Nachbarn zu agitieren.
Sicher nehmen auch ein paar Leute an "Querdenker"-Protesten teil, die selbst weder rechte noch allzu wirre Thesen vertreten. Wenn sie aber wirklich nur "in Sorge um die Grundrechte" sind, dann müssen sie sich fragen lassen, ob ihr Anliegen in einer Melange aus galoppierendem Wahnsinn und neoliberaler Selbstgerechtigkeit mit braunen Flecken richtig aufgehoben ist.
Ziviler Ungehorsam mit Maske
Wenn also für die eher linken Querdenker von früher dieses Wort inzwischen "verbrannt" ist, dann liegt das nicht daran, dass sie plötzlich alle staatstragend geworden wären und das "Selber-Denken" ablehnen.
Nein, die meisten von ihnen sind in grundlegenden Gerechtigkeitsfragen oppositionell geblieben und befürworten zivilen Ungehorsam, wenn es zum Beispiel gegen Atomwaffen oder um die Durchsetzung effektiver Klimaschutzmaßnahmen geht.
Ihre Kritik an staatlichen Corona-Maßnahmen fällt unterschiedlich aus – vielleicht in mancher Hinsicht zu schwach, wie Peter Nowak mehrfach in Telepolis-Beiträgen moniert hat. Aber sie waren sich zu Beginn der Pandemie schnell insoweit einig, dass es sinn- und verantwortungslos wäre, in Fundamentalopposition zu sämtlichen Schutzmaßnahmen zu gehen.
Wer schon vor Corona Polizeigewalt erlebt hat, weil er oder sie gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen oder gegen Rassismus auf die Straße ging, nimmt Leute, die "Diktatur" schreien, weil sie beim Shoppen einen Mund-Nasen-Schutz tragen sollen, in der Regel einfach nicht besonders ernst.
Linke "Old-School-Querdenker" können über eine Impfpflicht streiten – sie brechen sich aber keinen Zacken aus der Krone, wenn sie einfache Hygieneregeln einhalten sollen und kein individueller medizinischer Grund gegen das Tragen einer Schutzmaske spricht.
Die Gefahr, dass im Zuge der staatlichen Corona-Maßnahmen Überwachungspraktiken etabliert werden, die "danach" nicht mehr verschwinden, wird von ihnen mehr oder weniger deutlich gesehen, aber vielleicht auch deshalb zu wenig thematisiert, weil sie fürchten, mit den aberwitzigen Vergleichen der neuen "Querdenker" in Verbindung gebracht zu werden.
Diktatur vs. ausgehöhlte bürgerliche Demokratie
Linke gebrauchen zwar zum Teil den Begriff "Diktatur der Konzerne", wenn solche mehr Einfluss auf ihren Alltag und ihre Zukunft haben als gewählte Parlamente – sie sprechen aber nicht von Diktatur im Sinne umfassender Unterdrückung der persönlichen Freiheit und der Meinungsfreiheit, wenn genau das ohne schlimme Konsequenzen auf der Straße und auf Facebook-Seiten behauptet werden kann.
Der Unterschied zwischen einer solchen Diktatur und einer ausgehöhlten bürgerlichen Demokratie, in der Konzerne zu viel Macht haben, aber auch das gesagt werden kann und ziviler Ungehorsam nicht gleich für Jahre in den Knast führt, ist vor allem denjenigen klar, die über den deutschen Tellerrand hinausschauen.
Letzteres empfiehlt sich auch, um einzuschätzen, ob es realistisch ist, dass sehr unterschiedliche, zum Teil verfeindete Staaten sich darauf verständigen könnten, eine "Fake-Pandemie" zu inszenieren, wie es "Corona-Querdenker" gern unterstellen. Schließlich gab und gibt es Corona-Maßnahmen nicht nur in Deutschland und der westlichen Welt.
Fundierte Kapitalismuskritik kann auch nicht darin bestehen, aus Prinzip dagegen zu sein, wenn der Staat als ideeller Gesamtkapitalist versucht, sowohl Tote als auch wirtschaftliche Schäden durch Millionen Long-Covid-Fälle zu verhindern. Wenn dies untaugliche Versuche sind, weil einseitig der Freizeitbereich "dichtgemacht" wird – der aber dafür umso länger, weil der gewünschte Effekt ausbleibt –, dann muss genau das kritisiert werden.
Was die Bezeichnung "Querdenker" angeht, stellt sich theoretisch die Frage, ob das "verbrannte" Wort nun dauerhaft verloren ist oder irgendwann wieder positiv besetzt werden kann.
Klar ist: Es kann nicht einfach "zurückerobert" werden, indem man es ganz selbstverständlich wie früher benutzt, als gäbe es keine Bewegung mit dieser Selbstbezeichnung. Wer sich so nennt, muss heute leider erklären, wie er zu dieser Bewegung steht, wenn er ihr nicht automatisch zugeordnet werden will.