Quo vadis, Teilchenphysik?
Eine wissenschaftstheoretische Betrachtung zu CERN und Higgs
Der amerikanische Physiker Ernest O. Lawrence hatte 1929 eine großartige Idee: Er baute einen Beschleuniger, in dem geladene Teilchen durch ein Magnetfeld auf Kreisbahnen gehalten wurden, so dass sie noch höhere Geschwindigkeiten erreichten, ehe sie durch eine energiereiche Kollision ihre Struktur offenbaren sollten.
Die handtellergroße Konstruktion von Lawrence, genannt Zyklotron, war die erste Entdeckungsmaschine der Teilchenphysik. Das Prinzip des Zyklotrons wurde nun in bisher unerreichter Größe und Perfektion realisiert, im 27 Kilometer langen Tunnel des Large Hadron Collider am CERN, wo Protonen mit praktisch Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen.
Die Früchte eines Jahrhunderts physikalischer und technischer Evolution stecken in diesem gigantischen Projekt, angefangen von der phänomenalen Supraleitung knapp über dem absoluten Temperaturnullpunkt, die so starke Magnetfelder überhaupt erst ermöglicht, über Hightech-Detektoren, die die Spuren der Kollisionen aufzeichnen, bis hin zur sumbillimetergenauen Computersteuerung der Protonenstrahlen. Allein die Anlage als solche erzeugt zu Recht Faszination für das, was der Mensch in seinem Wissensdrang erschaffen kann - es ist unmöglich, vom LHC nicht begeistert zu sein. Dass der Beschleuniger trotz der enormen Herausforderungen auch noch so gut funktioniert, ist eine Leistung aller Beteiligten, die höchsten Respekt verdient.
Technische Evolution und physikalische Rätsel
Dennoch - wissenschaftlicher und technischer Fortschritt beeinflussen sich zwar, gehen aber selten im Gleichschritt. Und gerade beim Large Hadron Collider, auf dessen Ergebnisse man seit Jahrzehnten gespannt ist, fällt es schwer, von der Tagesaktualität Abstand zu halten und die langen Zeiträume zu betrachten, in denen die wissenschaftliche Erkenntnis fortschreitet. Und so ist etwas Vorsicht geboten, wenn kurz nach dem technischen Erfolg auch die im LHC gewonnenen Erkenntnisse schon als historisch bezeichnet werden. Neben der Freude über das Gelingen des Projektes muss man sich hier an den Zweck erinnern - die tiefen Fragen der Natur zu entschlüsseln. Dazu eine kleine Rückblende.
Die 1865 von James Clark Maxwell formulierte Elektrodynamik wurde 1888 durch Heinrich Hertz sensationell bestätigt, der nachwies, dass sich elektromagnetische Wellen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten - kaum eine Entdeckung beeinflusste unsere Zivilisation so nachhaltig wie diese. Elektromagnetische Wellen entstehen, wenn in einer Antenne Ladungen beschleunigt werden. Dennoch hat die Physik bis heute keine allgemeingültige Formel zur Hand, die die Abstrahlung einer sehr stark und beliebig beschleunigten Ladung beschreibt. Dies liegt daran, dass die Theorie den starken elektrischen Feldern eine Energiedichte zuschreibt, die nach Einsteins spezieller Relativitätstheorie jeder Ladung eine unendlichen Masse verleihen würde. Alle Physiker sind sich darin einig, dass die klassische Elektrodynamik in sich widersprüchlich ist - ein Problem, das auch im Jahr 2013 noch einer Lösung harrt.
Solche ungelösten Fragen der Physik sind zahlreich, und exemplarisch seien hier zwei herausgegriffen: Die Zahl 137,035999, der Kehrwert der Feinstrukturkonstanten, ist eine bemerkenswerte Mitteilung der Natur, die durch die Zusammenarbeit von raffinierten Experimenten gemessen wird. Theoretisch berechnen kann man sie jedoch bis heute nicht. Richard Feynman bezeichnete dies als "eines der verdammt großen Rätsel der Physik".
An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass echt wissenschaftliche Theorien stets quantifizierbar sind, also konkrete Zahlen vorhersagen, die dann im Experiment überprüft werden können. Für Feynman bestimmte die prozentuale Übereinstimmung die Qualität einer Theorie, aber schon Isaac Newton forderte von der Physik quantitative Resultate: "Gott hat alles mit Maß, Zahl und Gewicht erschaffen."
Ebenso rätselhaft wie die Feinstrukturkonstante ist die Zahl 1836,15.., das Massenverhältnis von Proton und Elektron - um 1930 übrigens die einzigen bekannten Teilchen der Physik. Paul Dirac grübelte jahrelang, wie man diese Zahlen berechnen könnte - und scheiterte, ebenso wie Einstein, Schrödinger und Heisenberg.
Einfachheit in den Naturgesetzen - ein Axiom aus der Mode
Warum aber haben die größten Physiker der Neuzeit so viel Kraft auf diese Fragen verwendet? Sie waren überzeugt, dass fundamentale Naturgesetze einfach sein müssen. Jede unerklärte Zahl war ihnen dabei zuwider, jede Willkürlichkeit schien ihnen ein Geheimnis, das ihnen die Natur noch vorenthielt.
Viele Debatten über die Grundlagen der Physik entzünden sich gerade an diesem Punkt, ob die Physik denn einfach sein muss. Natürlich muss sie nicht. Aber es liegt eine Gefahr darin, unser mögliches Nichtverstehen damit zu entschuldigen, die Natur sei nicht verständlich. Und man muss sich bewusst sein, dass Einstein, Schrödinger, Heisenberg, Pauli und Dirac, aber auch Ernst Mach, Max Planck und Nils Bohr ihre Arbeit in einer philosophischen Tradition sahen, die die Einfachheit der Naturgesetze als Selbstverständlichkeit voraussetzte. Denkbar, dass sie alle einem falschen Ideal nachhingen - aber wenn man die aktuellen Erkenntnisse der Physik historisch einordnen will, kann man darüber nicht hinwegsehen.
Big Science macht Weltgeschichte, Philosophie ad acta
Während um 1930 Fragen wie zur Feinstrukturkonstante und zu den Massen der Elementarteilchen (und einige andere Fragen) noch auf dem Tisch lagen, lieferte die Teilchenphysik bereits interessante Ergebnisse, nicht zuletzt durch das von Lawrence entwickelte Zyklotron. Während sich die Theoretiker über die Interpretation der gerade entwickelten Quantenmechanik stritten, konzentrierte sich eine pragmatische Generation von Physikern auf die Fortführung der experimentellen Forschung. Dennoch muss man hier festhalten, dass dies keine geradlinige Weiterentwicklung des Wissens war, sondern eher eine Verzweigung, um nicht zu sagen Übersprungshandlung. Denn zu den ungelösten Fragen trugen die neuen Teilchen zunächst nichts bei.
Physikgeschichte ist auch Teil der Geschichte. Ende der 1930er Jahre begannen die Nationalsozialisten die wissenschaftliche Kultur in Europa samt ihren philosophischen Denktraditionen zu zerstörten, und noch während des Untergangs des Dritten Reiches gelangte die Physik ausgerechnet durch die Entwicklung der Atombombe ins Rampenlicht. Die nun mächtige Forschergeneration des Manhattan Project begründete ein Paradigma einer technikgeleiteten Physik. Sie schob die Grenzen des experimentell Machbaren immer weiter voran, beschrieb jedoch die Ergebnisse in Modellen, welche jene grundlegenden Fragen ausklammerten.
Diese Art von Physik, Big Science, dominierte ab der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts, und obwohl sie in mancher Hinsicht eine Erfolgsgeschichte war, stellte sie doch einen Bruch mit den naturphilosophischen Prinzipien dar - Einstein, Schrödinger und Dirac starben als Außenseiter.
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