RAF-Hysterie und Kreuzberg-Klischees: Generalverdacht gegen alles Linke?
Dass Daniela Klette im Szene-Bezirk untertauchte, passt scheinbar ins Bild. Ein Verfassungsschutz-Anwalt findet es logisch - und zieht schiefe Parallelen. Ein Kommentar.
Das Geraune über Berlin-Kreuzberg als linkes Szene-Biotop, in dem ehemalige RAF-Mitglieder "nicht zufällig" untergetaucht seien, reißt nicht ab. Daniela Klette soll bis zu ihrer Festnahme Ende Februar rund 20 Jahre lang hier gelebt haben.
Wenn ein "RAF-Experte" wie der Verfassungsschutz-Anwalt und Autor Butz Peters das laut Interview-Aussagen für so logisch hält, warum hat der Staatsapparat dann so lange im Dunkeln getappt?
RAF-Verstecke mitten in Kreuzberg und unter der Nase des BKA
Da würde es fast mehr Sinn machen, wie Burkhard Garweg auf einem Bauwagenplatz zu leben, der nur den sprichwörtlichen Steinwurf von der Berliner Außenstelle des Bundeskriminalamts (BKA) entfernt ist. Frei nach dem Motto: "Hier werden sie mich nicht suchen." Kreuzberg ist dagegen fast zu klischeehaft. Oder spekulierte sie darauf, gerade deshalb nicht hier gesucht zu werden? Peters geht von anderen "Standortvorteilen" aus:
Kreuzberg ist ein einmaliges soziales Biotop in dieser Republik. Dicht besiedelt, in Teilen schnieke, in weiten Teilen traditionell alternativ. Hier zählen für viele Gesetze und Staat nicht viel. Wenn ich abtauchen müsste, wäre Kreuzberg für mich erste Wahl.
Butz Peters im Gespräch mit der Berliner Zeitung, 5. März
Die Möglichkeit, dass auch Teile der Strafverfolgungsbehörden und verfassungsschutznahe Kreise so denken könnten, müssten Klette und ihre Gefährten dann eigentlich auch bedacht haben.
Die Lesart der Rechten: Halb Kreuzberg unterstützt die RAF
Allerdings kann sich Peters dann doch nicht ganz vorstellen, was auf Social-Media-Kanälen im Umfeld der AfD kolportiert wird – dass nämlich "halb Kreuzberg" die Untergetauchten unterstützt habe.
Unterstützung von einigen wenigen mag es vielleicht gegeben haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein größeres Unterstützernetzwerk am Werke war. Denn eine der Lehren, die die dritte RAF-Generation aus den Erfahrungen der beiden Vorgängerformationen gezogen hat, ist, den Kreis an Mitwissern so weit wie möglich zu begrenzen.
Butz Peters
Party-Geblubber mit RAF-Bezug: Die Frau, die nicht Klette war
Mit vielen Mitwissern hätte das in diesem "Biotop" auch kaum 20 Jahre gutgehen können. Vielleicht wäre es aber nicht zwangsläufig für wahr gehalten worden, wenn vor zehn Jahren irgendjemand auf der WG-Party von entfernten Freundesfreunden gesagt hätte: "Übrigens, die RAF-Leute sind hier in Kreuzberg – aber pssst, mehr kann ich nicht erzählen."
Das Journalistenteam, das Klette mit einer Gesichtserkennungs-Software auf die Spur kam, hatte vorher schließlich auch von entsprechendem Party-Geblubber gehört, das sich dann als haltlos entpuppte: Eine ältere Frau aus dem Umfeld von Anonymous hatte sich in diesem Fall sogar spaßeshalber selbst als gesuchte Ex-RAF-Militante ausgegeben – und natürlich hatte es jemand weitererzählt. Dies spielte sich in Köln ab.
Ein Kreuzberg-Klischee mit wahrem Kern ist aber auch, dass dort gerne gefeiert und getrunken wird – und dass es dort nicht so einfach ist, sich interessant zu machen: Niemand will eigentlich als "Normalo" wahrgenommen werden, fast alle – besonders aus der Provinz zugezogene "Kartoffeldeutsche" – wollen irgendwie am subversiven Charme des Bezirks teilhaben, auch bei sehr unterschiedlichen politischen Ansichten; und in den meisten Fällen, ohne sich strafbar zu machen.
Vorteil nicht nur für Ex-RAF-Leute: Weniger Miete, weniger Fragen
Linksradikal sind sie in den seltensten Fällen. Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten hatte Berlin aber sehr lange relativ günstige Mieten und Untermieten, deshalb zog es vor der verschärften Gentrifizierung jahrzehntelang diverse Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstler mit nicht ganz aalglatten Lebensläufen in diese Stadt – und hier bevorzugt nach Kreuzberg.
Insofern müssen sich auch Menschen über 50, die nie eine klassisch-bürgerliche Existenz hatten, hier vielleicht weniger verstellen, denn das ist hier einfach normaler als zum Beispiel in München. In Berlin-Kreuzberg wirft das einfach weniger Fragen auf. Um das zu schätzen, muss aber niemand Straftaten begangen haben.
Insofern machte es natürlich mehr Sinn, hier unterzutauchen – und bei Münchner Durchschnittsmieten wäre auch das Geld aus den Raubüberfällen sehr viel schneller aufgebraucht als in Kreuzberg, wo Daniela Klette lebte, oder im Bauwagen von Burkhard Garweg in Berlin-Friedrichshain. Und in der Provinz, wo die Mieten generell günstig sind, ist es mit der Anonymität nicht weit her.
Medienhype: Wer hat Angst vor Linksextremen?
Für einen Generalverdacht gegen Kreuzberger Szene-Linke taugt aber all das nicht – auch wenn es leitende Redakteure des Springer-Verlags wie Ulf Poschardt gerne so hätten. "Das ist erst der Anfang: man wird sich ziemlich genau ansehen, wer wann wo wie links(extrem)offen war", schrieb er an diesem Samstagmorgen auf der Plattform X.
Linksliberale Lästerei über Billigmöbel von Daniela Klette
Dass sich Daniela Klette offenbar nach keinem der Überfälle ein 1.000-Euro-Sofa geleistet hat, war nun sogar schon Gegenstand von Lästereien in der linksliberalen Jungle World. Ihre wohl preiswert zusammengestückelte Wohnungseinrichtung war teilweise auf den aktuellen Fahndungsfotos von Burkhard Garweg zu sehen – und weckte bei der Jungle-World-Autorin traumatische Erinnerungen an Leute aus der linken Szene, die ihr in den späten Teenager-Jahren oder mit Anfang 20 auf die Nerven gegangen waren.
"Was sie mit dem vielen erbeuteten Geld angefangen haben, man möchte es jedenfalls nicht wissen", schrieb sie vor wenigen Tagen – kurz darauf wurde gemeldet, dass in Klettes Wohnung neben Waffen und fünfstelligen Bargeldbeträgen auch ein Goldbarren gefunden worden sei.
RAF-Offenbarung vor Obdachlosen: Wahrheit oder Legende?
Ein Strafverteidiger, der halbwegs seinen Job macht, würde dazu wohl sagen, dass Klette bescheiden gelebt hat, um möglichst keine weiteren Überfälle begehen zu müssen. Schließlich wurde es für die 65-Jährige auch jedes Jahr wahrscheinlicher, ernsthaft zu erkranken und eine medizinische Behandlung zu brauchen, die in der Illegalität nicht möglich gewesen wäre.
Burkhard Garweg hat nach bisherigen Erkenntnissen in seinem Bauwagen sogar noch bescheidener gelebt – ob er für Einkäufe und andere Hilfsleistungen bei einer Seniorin Geld bekam, blieb zunächst unklar, er soll aber laut Medienberichten beim Betteln im Umfeld der Oberbaumbrücke gesehen worden sein und einem der Obdachlosen dort offenbart haben, dass er früher bei der RAF gewesen sei.
Der Wahrheitsgehalt und die Wahrscheinlichkeit einer Verwechslung sind unklar. Aber all das klingt so gar nicht nach dem Vorhandensein eines verschwiegenen linksradikalen Unterstützerkreises.
Links-Rechts-Gleichsetzung von Verfassungsschutz-Anwalt
Butz Peters, der die Spekulationen darüber angeheizt hat, zog zuletzt noch eine Parallele zum "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), dessen Kerntrio laut Gerichtsurteil für zehn Morde aus überwiegend rassistischen Gründen verantwortlich war.
Daniela Klette und ihre flüchtigen Mitbeschuldigten Burkhard Garweg und Volker Staub sind bisher weder verurteilt, noch wird ihnen ein vollendeter Mord vorgeworfen, noch mussten Menschen allein aufgrund ihrer Herkunft vor ihnen Angst haben.
Nachdem sich die RAF vor fast 26 Jahren aufgelöst hatte, sollen sie ihren Lebensunterhalt mit Raubüberfällen bestritten haben. Während der intensiven Fahndung vergangene Woche erklärte zudem noch das federführende LKA Niedersachsen, es bestehe keine konkrete Gefahr für die Bevölkerung.
Wenn NSU-Vertuscher als RAF-Experten auftreten
Interessant ist aber auch, dass der medial herumgereichte "RAF-Experte" Peters im NSU-Komplex auf der Seite der Vertuscher stand: als Rechtsbeistand von Verfassungsschutz-Zeugen, die möglichst wenig Auskunft über die Rolle ihrer Behörde und ihrer V-Leute in der militanten Neonaziszene geben wollten.
Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags vertrat er den damaligen Chef des sächsischen Verfassungsschutzes und ehemaligen Brandenburger V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath. In den Untersuchungsausschüssen des Thüringer Landtags zum NSU-Komplex saß er auf Kosten der Steuerpflichtigen an der Seite von Mitarbeitern des dortigen Landesamts für Verfassungsschutz.
"Das heißt, dass der Thüringer Steuerzahler um bisher rund 10.000 Euro erleichtert wurde, damit in den Ausschüssen, in denen das Zusammenwirken von Neonazis, V-Leuten und Staat untersucht und aufgeklärt werden soll, neben drei Geheimdienstlern ein Beistand saß, damit diese im Zweifelsfall nicht alles aussagen", hielt die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König (Die Linke) 2014 fest.
Bleibt abzuwarten, ob der Verfassungsschutz über die Jahre hinweg auch ähnlich viele Hinweise auf den Verbleib von Klette und Co. hatte wie im Fall des NSU-Kerntrios.