Rache gegen Muslime und Revanche gegen Deutschland?

Seite 2: Rassismus und Ressentiments gegen Zugereiste und "Zahnlose"

Éric Zemmour ist einer, der in seinem Leben Ressentiments am eigenen Leib erleben und verkraften musste: Die seelischen Verletzungen seiner Familie als Vertriebene haben ihm zugesetzt. Er konnte sich nicht an der Eliteschule ENA qualifizieren - vielleicht auch, weil allzu vielen Bewerbern ihr mangelnder Elitehabitus zum Verhängnis wurde. Er musste sich als Journalist hart durchschlagen.

Das Establishment hat ihn viele Jahre ausgegrenzt. Er hat so einen Instinkt für die tiefsitzenden Ressentiments entwickelt, die in der französischen Klassengesellschaft mit ihrer schlimmen Kolonialvergangenheit schwelen.

Die neoliberalen Eliten haben diesen Sprengsatz über viele Jahre aktiv aufgeladen: Sogar ein sozialistischer Präsident François Hollande, auf den sich viele Hoffnungen ausgleichender Gerechtigkeit richteten, hat die armen Franzosen angewidert als die "sans dents", die "Zahnlosen" bezeichnet.

Der Freund der Milliardäre, der korrupte Präsident Sarkozy hat auf die Revolten in den Slums von Paris, die Banlieues, reagiert, indem er ankündigte, sie "auszukärchern". Und der ehemalige Banker und Millionär Emanuel Macron bezeichnet im Fernsehen die einfachen Leute herabwürdigend als "Riens", was etwa so viel heißt wie nichtsnutziger Abschaum.

Comeback des linken und rechten Antisemitismus der 1930er-Jahre?

Kein Wunder also, dass ein politisches Phänomen wie Éric Zemmour Erfolg hat. Er fährt durch die kranke und orientierungslose und verunsicherte politische Landschaft wie das Messer durch die Butter - also durch eine weichgekochte Zivilgesellschaft, der die wahren Werte offensichtlich abhanden gekommen sind.

Agitatoren wie er lenken die Bevölkerung mit Leichtigkeit auf Feindbilder - so wie es Trump mit den Mexikanern, Arabern und ebenso gegenüber Deutschland praktiziert hat. Und Zemmour inszeniert sich, wie Trump, als Oppositioneller gegen das vielfach verhasste liberale Establishment.

Beide reproduzieren damit ein toxisches Klima wie in den 1920er und 1930er-Jahren. Auch damals hatten liberale Regierungen in den Augen der Bevölkerung versagt. Auch damals war es diesen Eliten nicht gelungen, den inneren und äußeren Frieden herzustellen. Auch damals, Mitte der 1920er-Jahre, versuchten sie, die von Hass inspirierte französische Politik von Versailles zu beenden: Gustav Stresemann und Aristide Briand wollten Deutschland und Frankreich versöhnen. Aber da war es schon zu spät.

Die deutschen Eliten verrieten letztlich die Demokratie an Hitler und die französischen Eliten konnten ein Jahr später, 1934, nur knapp einen rechtsradikalen Putschversuch verhindern. Beide Gesellschaften suchten nach inneren und äußeren Feinden und kultivierten Antisemitismus, den die beiden Erster-Weltkriegs-Veteranen Hitler und General Pétain auf schreckliche Weise umsetzten.

Der Emigrant Charles De Gaulle und der Dissident Konrad Adenauer zogen nach dem schrecklichen Krieg Lehren aus diesen Jahrhunderttragödien. Meinungsbildner wie Raymond Aron verankerten das dies- und jenseits des Rheins im öffentlichen Bewusstsein und eine Aussöhnung gelang tatsächlich - auch wenn weiterhin alte Stereotypen im Unterbewusstsein schlummern.

Darum haben die neoliberalen Eliten leider nichts aus der Geschichte gelernt. Sie riskieren dieses Erbe der Aussöhnung seit den 1990er-Jahren zu verspielen. Die von ihnen entfesselten Finanzmärkte haben Teile Europas verarmen lassen und eine große prekäre Gesellschaftsschicht geschaffen.

Darüber hinaus ignorierten sie Volksbegehren gegen die EU, setzten auf eine Austeritätspolitik, die die Kosten der Finanzkrise vergemeinschaftet und durch Inflation und Nullzinspolitik Hunderte Millionen Bürger enteignet. Sie deindustrialisierten ganze französische Landschaften. In Deutschland sind der Osten und weitere große Gebiete abgehängt.

Die Deutschen stehen am Ende der Ära Merkel ernüchtert vor einem Land im Niedergang. Die Kanzlerin hinterlässt ein Land in Abstiegsangst - innerlich zerrüttet und verschuldet - ohne Spielraum für wichtige Zukunftsaufgaben. Diese verfehlte neoliberale Politik und ihre spalterischen EU-Eliten haben bereits Großbritannien aus der EU gedrängt. Polen steht auf der Kippe.

Ein neuer Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich wird die europäische Verständigung und Zusammenarbeit und das Vermächtnis der Nachkriegseliten vollends beerdigen.

Allein ein Achtungserfolg von Zemmour bei den Wahlen würde die französische und die europäische Gesellschaft mit infizieren. Das wird insbesondere das Zusammenleben zwischen Christen, Juden und Muslimen weiter vergiften - und höchstwahrscheinlich zu neuen Gewalttaten anregen: Rechtsradikale schlagen dann, politisch aufgehetzt, gegen Muslime los und diese schlagen zurück, Linksradikale werden gegen den Staat mobil machen und einen linken Antisemitismus züchten, wie er gerade in England mühsam übertüncht scheint.

Hier erfüllt sich die Prophezeiung des indischen Intellektuellen Pankay Mishra für zunehmende Gewalt und Gegengewalt im Hyperkapitalismus: Weil sich viele Menschen "militant von dieser Zivilisation ab(-wenden), geprägt von einem breiteren, tieferen und flüchtigeren Verlangen nach schöpferischer Zerstörung".

Das gefährdete Erbe Raymond Arons

Bedauerlicherweise stößt Zemmour im französischen Diskurs bisher auf keine Gegner, die ihm intellektuell und argumentativ gewachsen sind. Einer von ihnen wäre der Denker und Publizist Raymond Aron gewesen, der ebenfalls jüdischer Herkunft war, aber leider schon lange verstorben ist.

Er schrieb sogar jahrelang für den konservativen Figaro, wie Zemmour es auch tat. Aber Aron folgte als Résistancekämpfer nach dem Einmarsch der Deutschen de Gaulle ins Exil nach London - und blieb nach seiner Rückkehr nach Frankreich bis ins hohe Alter einer der einflussreichsten aufklärerischen Meinungsbildner - auch für die Aussöhnung mit Deutschland.

Inzwischen gilt er als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er brachte der französischen Nation und seinem Schulfreund Jean-Paul Sartre den deutschen Existenzialismus und das strategische Denken des Preußen Carl von Clausewitz nahe.

Was Aron als französischer Jude für die Aussöhnung nach dem Weltkrieg getan hat, erscheint angesichts der neuen Töne und Hasstiraden aus Paris stark gefährdet. Scheinbar stehen wir vor einem Rückfall in Vorkriegs-Feindschaften - und das mitten in Europa.

Wir stehen vor einer neuen politischen Zeitenwende, die nach den Krisen der letzten Jahre immer neue apokalyptische Reiter am Horizont auftauchen lässt.