Rätselhafte Raumdrehung

Seite 2: Tiefsinniger Partytrick

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Stellen Sie sich einen Kellner vor, der Ihnen gerade einen Teller servieren will und diesen vor sich auf der flachen rechten Hand hält. Wir wollen nun Drehungen dieses Tellers betrachten, der Einfachheit halber aber nur um eine vertikale Achse (andernfalls würde das Essen ja auch auf dem Boden landen).

Lassen wir den Kellner den Teller zunächst um volle 360 Grad drehen, das heißt: Gegen den Uhrzeigersinn zieht er den Teller zunächst zu seiner Hüfte, um ihn dann mit einer Verrenkung nach hinten und außen wieder in die ursprüngliche Position zu drehen - ständig gegen den Uhrzeigersinn, wonach er sich freilich mit verdrehtem Arm in einer äußerst unbequemen Position wiederfindet.

Es scheint nun unmöglich, den Teller um weitere 360 Grad gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, ohne sich den Ellenbogen zu brechen. Verblüffenderweise kann der Kellner dies aber ganz einfach ausführen, wenn er seinen Oberkörper zurücklehnt, den Teller etwas hebt und die nachfolgende Drehung elegant über seinem Kopf vollendet, sodass er den Teller nun wie am Anfang hält. Wenn Sie Schwierigkeiten hatten, zu folgen, sehen sie sich den zweiten Teil dieser Visualisierung an.

Was wie ein Zauberstückchen anmutet, ist jedoch eine fundamentale Eigenschaft der Drehgruppe SO(3): Erst wenn man Drehungen doppelt ausführt, wird die Operation "einfach zusammenhängend", das heißt ohne Verrenkung machbar. Mathematiker definieren daher eine "doppelte Überdeckung" (genannt SU(2)), die alle Drehungen auf zwei Weisen enthält: "verrenkt" und "normal". Technisch wird es die Mannigfaltigkeit S3 (mit Gruppenstruktur) genannt, und trotz ihrer hochinteressanten Eigenschaften handelt es sich dabei um das allereinfachste dreidimensionale Objekt überhaupt. Dies war übrigens Thema des berühmten Beweises von Grigori Perelman.

Alles klar? Mitnichten

Ganz offenbar ist der Spin eine merkwürdige Konsequenz von Rotationen im dreidimensionalen Raum. Ich betone dies deshalb, weil von vielen Physikern, insbesondere von alles-erklärenden Wissenschaftsvermittlern, die Ansicht vertreten wird, der Spin sei keineswegs rätselhaft, sondern schon lange "geklärt", nämlich durch die Verbindung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie, die 1928 Paul Dirac herausgefunden hatte.

Richtig ist daran, dass Paul Dirac die Wellengleichung der Quantenmechanik mit Einsteins berühmtem E=mc2 verbunden hatte und in der Folge auf ein Zahlensystem gestoßen war, das die Mathematik des Spins ebenfalls reproduzierte. Dabei wird aber nicht nur vergessen, dass Dirac trotz Nobelpreis keineswegs zufrieden mit seinen so gewonnenen Erkenntnissen war (wie sein Biograph Helge Kragh ausgezeichnet beschreibt), sondern auch, dass der Spin eben nur reine Mathematik benötigt. Auch eine Zivilisation, die von Quantenmechanik und Relativitätstheorie keine Ahnung hat, könnte ihn durch pures Nachdenken über dreidimensionale Rotationen entdecken - so wie dies Élie Cartan 1913 in seinem Buch gelang, das heute den Titel "The Theory of Spinors" trägt. Was fehlt, ist ein Beweis, dass die Natur gar nicht anders kann, als Elementarteilchen mit dieser Eigenschaft zu bauen.

Für moderne Theorien der Physik ist dies deshalb etwas unangenehm, weil der Spin dort nicht als eine Notwendigkeit auftaucht, sondern eher als eine überflüssige Verzierung. Sogar der sonst tiefschürfende Richard Feynman schreibt in seinem Buch "QED - The Strange Theory of Light and Matter" (S. 90) lapidar über den Spin: "Er kompliziert nur die Formeln ein bisschen." Warum er das tut, bleibt im Dunkeln. Die Physik kann noch keinen zwingenden Grund angeben, warum Elementarteilchen das Spin-Verhalten zeigen müssen.

Alte Fragen pflanzen sich fort

Ebenfalls in den Kanon des Unproblematischen wird die sogenannte Spin-Bahn-Kopplung in der Atomphysik eingeordnet. Um auf unser anfängliches Bild zurückzukommen, trägt die Erde (analog zu einem Elektron im Atom) sowohl einen Bahn- als auch einen Eigendrehimpuls, der übrigens die gleiche Orientierung aufweist. In der Atomphysik werden diese beiden zu einem einzigen vermischt, es kommt nur auf die Summe an. So als ob es egal wäre, wenn die Erde die Sonne schneller umrundet, aber gleichzeitig eine gegensinnige Erddrehung die Sonne im Osten untergehen lässt. Für Planeten macht dies offenbar einen großen Unterschied, für Atome sind die anscheinend so verschiedenen Sachverhalte das gleiche. Warum? Man weiß es nicht. Gerade beim Spin klafft zwischen Beschreibung der Phänomene (zum Beispiel auch als "Fermionen" und "Bosonen") und der Rechtfertigung ihrer Existenz oft eine riesige Lücke.

Das Problem der Addition von einzelnen Spins ist auch in jüngerer Zeit als Spin-Krise zutage getreten. Nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik ist das Proton aus verschiedenen Einzelbestandteilen wie sogenannten Quarks und Gluonen zusammengesetzt. Warum sich die Spins all dieser Teilchen (jeweils ± ½) zu einem ebensolchen Spin des Protons addieren, ist nicht recht erklärlich.

Ohne die Kritik an dem Quark-Modell hier zu vertiefen, kann man doch festhalten, dass jedenfalls Paul Dirac ganz andere Wege gegangen ist, um das Proton zu erklären - er wollte dessen Eigenschaften aus reiner Mathematik herleiten. Wäre es ihm gelungen, hätte er wohl auch die Existenz des Spins bewiesen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet, zwei seiner Bücher sind auch auf Englisch erschienen. In seiner Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.

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