Ramadi: schiitische Milizen greifen ein
Sunnitische Stämme warnen vor Bürgerkrieg
Die Fallhöhe ist beträchtlich. Vor fünf Tagen meldete das Pentagon noch, dass die Strategie, den IS zu besiegen, funktioniert (vgl. Einnahme von Ramadi: Islamischer Staat auf dem Vormarsch im Irak). Jetzt fürchten Beobachter, dass der "Islamische Staat" sich mit den jüngsten Eroberungen in der Provinz Anbar eine gute Basis für "den Weg nach Bagdad" geschaffen habe.
Zwar kann man solchen Berichten unterstellen, dass sie zur aufmerksamkeitsheischenden Überspitzung neigen - der Autor Hassan Hassan ist Verfasser eines Buches, das die Bestsellerlisten hochkletterte und haargenau die nicht zu unterschätzende Gefährlichkeit des IS zum Thema hat - aber klar ist: eine Niederlage oder Schwächung der IS-Milizen sieht anders aus. Bilder, die zeigen, wie sich IS-Milizen aus irakischen Militär-Lagern mit allerhand Gerät, darunter US-Fabrikate, versorgten, setzten dem noch eine empfindliche Spitze auf.
Mit 28 Autobomben, darunter mindestens sechs 15-Tonner-Trucks, gesteuert von "Märtyrern", haben IS-Milizen die Verteidigung Ramadis mit einem "Hammerschlag" erledigt. Dass dies gelang, lag, wie so oft, an einer längere Vorbereitung der Attacke.
Der Eroberung Ramadis wurde vom IS bereits Ende Oktober 2013 angekündigt. Seither gab es zahlreiche Angriffe, die der Bagdader Führung zeigten, dass es die IS-Milizen ernst meinten mit ihrer Ankündigung. Über ein Jahr lang erfolgten unmissverständliche Aktionen seitens des IS. Jetzt bemüht man einen Sandsturm als Erklärung für den militärischen Erfolg des IS trotz der mehreren hundert US-Luftangriffe zur Schwächung des IS - 420 allein auf Ziele bei Fallujah und Ramadi.
Am Montag war der iranische Verteidigungsminister Hossein Dehqan in Bagdad, um mit der irakischen Regierung die militärische Antwort zu besprechen. Inzwischen sind schiitische Milizen mobilisiert. Der Ministerrat in Bagdad erließ eine entsprechende Anordnung. Die Freiwilligen der Popular Mobilization Forces, al-Hashd al-Shaabi, worunter ein Verband vorwiegend schiitischer Milizen verstanden wird, sollen, wie in Tikrit, Ramadi zurückerobern.
US-Vertreter hatten zuvor versucht, al-Abadi davon zu überzeugen, dass dies der falsche Schritt sei. Ein Chef des sunnitischen Dulaimi-Stammes, derzeit in Washington, erklärte gestern, warum.
Wir warnen davor, dass die Front der schiitischen Milizen in Anbar einmarschiert, besonders in Ramadi. Wenn sie dies jetzt machen, wird das einen Bürgerkrieg auslösen.
Sunniten sollten die Rückeroberung übernehmen, so Scheich Abdulrazzaq al-Dulaim. Das Problem ist aber, dass sich möglicherweise nicht genug sunnitische Gruppen finden, die dazu bereit sind und dazu fähig. Der Dulaimi-Stamm gehörte im letzten Jahrzehnt zum Kern jener sunnitischen Stämme, die den US-Truppen im Kampf gegen die Vorgängerorganisation des IS, al-Qaida, im Irak halfen.
Mittlerweile bietet sich ein anderes Bild. Offensichtlich hat der IS einige sunnitische Stämme auf seine Seite gezogen. Dabei half auch, dass der frühere Premier Maliki nach dem Rückzug der Amerikaner, sunnitische Stammesführer verhaftete und den sunnitischen Stämmen Unterstützung verweigerte.
Wie tief die Gräben zwischen Schiiten und Sunniten gezogen wurden, erfahren jetzt auch die vielen tausend Flüchtlinge aus Ramadi - die Rede ist von mindestens 25.000: Sie können nicht ohne weiteres in Bagdad unterkommen. Ihnen werden Pässe abgenommen, sie werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Beschwerden über die Behandlung von Flüchtlingen stehen regelmäßig auf der Tagesordnung. das ist läüngts auch Thema in der UN.
Die UN warnt vor einer humanitären Katastrophe durch den erneut angestiegenen Flüchtlingsstrom im Irak. Die Sunniten warnen al-Abadi davor, die Politik Malikis fortzusetzen und zu viel Kontrolle an Iran abzugeben.
US-Kommandeure haben inzwischen eingelenkt, sie sehen gegenwärtig keine bessere Möglichkeit, als den IS in Ramadi mithilfe von schiitischen Milizen zu bekämpfen, die noch im im letzten Jahrzehnt Gegner der US-Truppen waren. Und es gibt Optimisten unter den Beobachtern, die darauf hoffen, dass sich die Spannungen zwischen Sunniten und Schitten abbauen lassen angesichts eines gemeinsamen Feindes, dem "Islamischen Staat". Der bezieht seine Dynamik nicht zuletzt aus genau diesen Spannungen.