Rammstein und Till Lindemann: Die Stunde der Trittbrettfahrer

Von einer Rammstein-Fanseite in Israel. Bild: @RammsteinIsrael, Facebook

Vorwürfe gegen Band und Frontmann harren Aufklärung. Medien und Politiker preschen vor. Wie die Debatte im Backstage beginnt und beim Holocaust endet. Ein Telepolis-Leitartikel.

Es ist still geworden um die Band Rammstein und ihren Frontmann Till Lindemann. Was nicht heißt, dass sich die Affäre nicht weiterdreht, und zwar in keine gute Richtung.

Denn gut wäre, die teilweise offenbar misogyne, weil frauengefährdende Kultur im Eventbereich mit dem Ziel zu diskutieren, strukturell etwas zu ändern, um Sicherheit für weibliche Fans zu erreichen.

Gut wäre, zu hinterfragen, wie es zu mutmaßlichen Übergriffen im Backstagebereich der Rammstein-Konzerte kommen konnte, wenn doch offensichtlich ist, dass diese Geschehnisse nur Teil einer generell sexualisierten und auf männliche Machtstrukturen ausgerichteten Szene ist, die mit der sexuellen Befreiung von Frauen als Groupies im klassischen Sinne kaum mehr etwas gemein hat.

Stattdessen aber beherrschen Skandalisierung, Individualisierung und Aktionismus die Debatte. Ich habe an die Stelle schon früher darauf verwiesen, dass – ungeachtet der Schuldfrage, die zum jetzigen Zeitpunkt immer noch niemand zweifelsfrei bewerten kann – rechtsstaatliche Grundsätze zu zerrieben werden drohen.

In Konsequenz wird einzig die Polarisierung verstärkt. Die einen sahen und sehen in Till Lindemann einen Täter und in seinem Umfeld Mittäter. Die anderen sehen ihn als Opfer einer Kampagne.

Die nach wie vor ausverkauften Rammstein-Konzerte liefern zumindest ein Indiz dafür, dass die zweite Gruppe, also diejenigen, denen die Massivität der Vorverurteilung Unbehagen bereitet, zumindest nicht in der Minderheit ist; ebenso übrigens wie die Tatsache, dass sechs der acht Rammstein-Alben gerade wieder in die Top 100 der offiziellen deutschen Album-Charts aufgestiegen sind.

Als große Frage stellt sich also neben den erwartbaren Negativeffekten für den Rechtsstaat: Ist den Mädchen und Frauen mit dieser Skandalisierung, die von medialer wie politischer Seite – und dies allem Anschein nach nicht immer mit hehren Zielen – forciert wird, wirklich geholfen?

Denn welche Rolle spielt eigentlich das Empowerment junger Frauen, also grosso modo die Befähigung, sich zu wehren und übergriffigen Männern, vor oder hinter der Bühne, zugekokst oder nicht, einfach auch mal in die Eier zu treten?

Kaum eine, leider. Stattdessen bauschen die Medien den Skandal auf, und die Politiker inszenieren sich – was antiemanzipatorischer ist, als es auf den ersten Blick scheint – als Beschützer vermeintlich wehrloser und daher beschützenwerter Frauen.

Diese weitgehend unwidersprochene Tendenz treibt bizarre Blüten. Man mag etwa fragen, ob es dem Charme eines Rock’n’Roll-Konzerts zuträglich ist, wenn man (und frau) unter den moralisch-strengen Blicken der in Signalwesten gekleideten städtischen Awareness-Teams feiern muss.