Ratloser Westen: Russische Handelsstrategie könnte "regelbasierte globale Ordnung" aushebeln

Seite 2: Aufbau eines neuen Handelsrahmens

Die Handelszahlen zeigen deutlich, dass sich die russischen Handelsströme in den fast zwei Jahren seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine grundlegend verändert haben. Sie spiegeln jedoch weder die geopolitischen Aktivitäten wider, die diesem seismischen Wandel zugrunde liegen, noch geben sie Aufschluss über die jüngsten Initiativen, die die russische Regierung ergriffen hat, um die Ausrichtung des Handels zu festigen.

In dieser Hinsicht hat sich Russland aktiv an einer Vielzahl diplomatischer Aktivitäten beteiligt, die von bilateralen Gesprächen mit Ländern wie Indien und Iran bis hin zu Bemühungen um eine Erweiterung der Mitgliedschaft und der geopolitischen Reichweite der Brics und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) reichen.

Ende letzten Jahres trafen sich der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar und der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau, um Fragen der gängigen politischen, verteidigungspolitischen und kulturellen Partnerschaften zu erörtern. Sie besprachen auch ernsthaftere Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, um das starke Wachstum des russisch-indischen Handels seit 2022 zu stabilisieren.

Der Schwerpunkt dieser wirtschaftlichen Gespräche lag auf der Logistik, insbesondere im Zusammenhang mit der Einrichtung des internationalen Nord-Süd-Transportkorridors (INSTC). Alle drei Segmente des Korridors sind nun funktionsfähig. Dazu gehören die Westroute (Russland-Aserbaidschan-Iran-Indien), die Mittelroute (Russland-Iran-Indien) und die Ostroute (Russland-Zentralasien-Iran-Indien).

Korridore nach Indien weisen den Weg

Russland erhofft sich von der verstärkten Nutzung des Korridors eine Verbesserung der Infrastruktur in den kaspischen Häfen und die Möglichkeit, den Status von Astrachan und Machatschkala als Verkehrsknotenpunkte zu verbessern.

Jetzt, da auch die Seeroute Wladiwostok-Chennai oder der Östliche Seekorridor (EMC) in Betrieb ist, haben Indien und Russland eine realistische Chance, die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zukunft zu verbessern, was die bilateralen Beziehungen nur stärken kann.

Der Korridor ist auch für Indien von Vorteil, sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch. Er spiegelt den Wunsch der indischen Elite nach praktikablen Alternativen zu Chinas Neuer Seidenstraße Initiative (BRI) wider. Indien ist außerdem zuversichtlich, dass der Korridor einen besseren Zugang zu Zentralasien unter Umgehung Pakistans ermöglichen und seine wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran sowie zu Russland weiter stärken wird.

Eine weitere Möglichkeit, den regionalen Handel zu fördern, sieht Russland in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU). Am 25. Dezember trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EEU und unterzeichneten ein Abkommen mit dem Iran.

Eurasische Wirtschaftsunion

Das Abkommen markiert das Ende der zweijährigen Verhandlungen und wird nach der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente in Kraft treten. Mit dem Freihandelsabkommen zwischen Iran und der EUU werden die Zölle für 87 Prozent der zwischen den Parteien gehandelten Waren abgeschafft.

Es ist das bisher umfangreichste Handelsabkommen mit dem Iran und ein wichtiges Abkommen für Russland, da es einen weiteren Handelspartner festigt und die führende Rolle des Landes in der Handelsgruppe sowie in der wirtschaftlichen Entwicklung Zentralasiens unterstreicht.

Schließlich kündigten die Brics im Januar 2024 die Erweiterung der Gruppe um fünf neue Mitglieder an: Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Durch die neuen Mitglieder wird das gesamte BIP der Brics auf 28,5 Billionen Dollar oder 28,1 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung steigen, während die G7-Länder 43,2 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung auf sich vereinen.

Während die Erweiterung der Brics aus wirtschaftlicher Sicht bedeutsam ist, ist sie in einem geopolitischen Kontext noch bemerkenswerter. Durch die Hinzufügung von Ländern des Nahen Ostens und weiterer afrikanischer Länder erhält die Gruppe eine größere Präsenz entlang wichtiger Schifffahrts- und Handelsrouten.

Wird die "regelbasierte globale Ordnung" untergraben?

Außerdem erhöht sich dadurch der Anteil der Brics an der weltweiten Ölproduktion auf 43 Prozent und an den Exporten auf 25 Prozent. Wichtig ist auch, dass auf die Brics 72 Prozent der weltweiten seltenen Erden entfallen, die für Hightech-Waffen und Konsumgüter wie Platinen und Mobiltelefone von entscheidender Bedeutung sind.

Während viele im Westen nur auf die Rhetorik über Russlands schwache und kollabierende Wirtschaft und seine wirtschaftliche Isolation achten, sollten die westlichen Entscheidungsträger Russlands anhaltende Initiativen im geopolitischen Bereich genau verfolgen.

Russlands wirtschaftliches Bemühen mag aufgrund des Zusammentreffens einiger schwieriger geopolitischer Realitäten kompliziert sein, aber der sich entwickelnde Rahmen hat das Potenzial, die traditionelle "regelbasierte globale Ordnung" zu stören, wenn nicht gar zu untergraben.

Daher muss eine Politik des konstruktiven und uneingeschränkten Engagements in Handels- und Wirtschaftsbeziehungen auf globaler Ebene für westliche Regierungen in Zukunft ein wichtiges Instrument der Handelsdiplomatie sein. Dazu gehört auch eine stärkere Abkehr von der rigorosen Sanktionspolitik, die dem Westen nur den Zugang zu wichtigen Gütern erschwert und zu einer höheren weltweiten Inflation führt, deren Hauptlast die Verbraucher der Mittel- und Unterschicht tragen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Michael Corbin ist Ökonom und verfügt über fast 30 Jahre Erfahrung in der akademischen Welt, in Regierungsarbeit und in verschiedenen Think-Tanks, wo er sich mit Handels- und Wirtschaftsfragen im Zusammenhang mit Russland und Eurasien beschäftigt.