Re-Signation in Sao Paulo
Sao Paulo und nicht Los Angeles ist möglicherweise die Stadt der Zukunft, ein Vorblick auf die Urbanität von morgen. Bei deren Anblick könnte einen Resignation überkommen. Dietmar Kamper macht einen Versuch, ohne in blinden Optimismus zu verfallen, anhand von Sao Paulo einen anderen Denkweg zu beschreiten.
Der Geist tötet, der Buchstabe macht lebendig
Paulus von Tarsus, umgekehrt
Nicht noch Žmal zeichnen, "pas encore". Sondern Rücknahme der Unterschrift, mehr noch: Rückzug vom Außenposten der "Signatur" der menschlichen Zeichenmacht. Der Krieg gegen das Leben ist verloren, weil die Zeichen gesiegt haben, weil sie nichts (klein geschrieben), nichts mehr bedeuten.
Das unaufhörliche Rauschen der Stadt - ein weißes, schwarzes Rauschen? Zuviel? Zuwenig Information? Jedenfalls ein neuer, neuartiger Durchschnitt im Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn. Sao Paulo scheint in dieser Richtung die Stadt zu sein, die am meisten Weltstadt ist.
Deutlicher noch als in New York hat man das Gespür einer Startsituation: als wolle ein Teil der Erde abheben und als Rakete eine abenteuerliche Himmelfahrt beginnen. Hier ist die sogenannte Realität schon virtuell. Hier gíbt es den schönen alten Unterschied von Sein und Schein nicht mehr.
Alle wachen Menschen folgen dem Duktus ihrer instrumentell eingesetzten Vernunft und gehen willentlich - wie überall auf dem Planeten - einem plausiblen Geschäft nach. Aber zunehmend produzieren sie etwas mit, das niemand gewollt hat und das niemand für vernünftig ausgeben kann, den - für empfindliche Ohren - chaotischen Lärm und ein heftiges Augenleiden.
Sprach- und Bildabstraktion sind über den "point of no return" hinaus. Im Hören von außen und im Sehen von innen ist das weiße oder schwarze Rauschen, ist das bunte Gewimmel der herrenlosen Zeichen wie ein aufgestauter Rest eines guten Handelns, aber in der Tendenz absolut zerstörerisch.
In der großen Stadt kulminieren die Ausweichmanöver. Niemand kann mehr ungestört seiner Wege gehen. Jede Straße ist immerzu unterbrochen. Die rückgekoppelten Wirkungen ehemals unschuldiger Ursachen erzwingen einen dauernden Wechsel von Angriff und Verteidigung, der nicht mehr aufs Ganze geht, aber - soweit man sieht virtuos gemeistert wird.
Hier gibt es keine Fremden, weil es nicht Eigenes gibt. Eine Homogenisierung des Heterogenen hat nie stattgefunden. Die Ordnung von Mitte und Rand paßt nicht, auch nicht die von System und Umwelt. Und die Ordnung des Privaten und des Öffentlichen ist ein manchmal tödliches - Spiel von Räuber und Gendarm.
Die Un-Ordnung wuchs über jedes vorstellbare Maß hinaus. Doch genau für dieses Chaos haben die Menschen eine unbestreitbare Kompetenz entwickelt. Hier leben bereits jene Virtuosen der Unordnung, wie man sie in stadtsoziologischer Perspektive medienapokalyptisch extrapoliert hat: Chaoskompetenz als katastrophische Lust.
Trotzdem trifft man kaum Menschen, die mit sich überworfen wären, kaum Verbitterung. Die übliche Selbstverhinderung als Sackgasse des Lebenslaufes, als internalisierte Turbulenz und protestantischer Schuldabtrag passiert nicht. Keiner übernimmt die Verantwortung, keiner weist sie anderen zu. Protest kommt zwar vor, ist jedoch immer "selbstbezüglich" und deshalb wirkungslos.
Wer stört eigentlich in dieser Unordnung zweiter Ordnung? Denn es muß sich um eine Verstörung der konventionellen Störung des hilflosen Lebens handeln. Der Geist der abstrakten Unterscheidung, die vielgerühmte List der Vernunft, die miteinander den Verlust des Paradieses zu verantworten haben, sind nun offenbar selbst unter Druck und zeigen sich allenthalben als hoffnungslos desorientiert.
Keiner der geschichteten Architekturen ist dermaßen "verwahrlost" wie die Moderne der 50er und 60er Jahre. Die Moderne überhaupt als Inbegriff einer "Herrschaft des Subjekts" ist von allen Epochen am meisten Ruine in Sao Paulo. Man kann daran buchstäblich sehen, daß der Sieg der Abstraktion eine Niederlage war.
Zwar kursieren nach wie vor die leeren Phrasen der Herrschaft. Das rhetorische Spiel wird durchaus gepflegt, besonders von der Dienerschaft, die wie in Indien ihre Hierarchie behalten will. Aber die Dialektik der Anerkennung ist verrottet, weil das Prinzip eines Sieges mittels der Zeichen endgültig ausgespielt hat.
Batailles Satz "Niemand kann einem Herrn dienen" insistiert darauf, daß wieder einmal, wie so oft in der Geschichte, die Verlierer gewonnen haben. Doch sie taten ein Übriges: sie haben ihrerseits die Logik von Sieg und Niederlage außer Kraft gesetzt. Aufgefangen wird eine derart "elende Souveränität" im Netz der Freundschaften.
Man kann in Sao Paulo begreifen, daß diese übermächtige Logik der Geschichte nicht von der Seite der vermeintlichen Sieger aus verlassen werden kann. Die stecken im Morast ihres Omnipotenzwahns. Verlassen werden kann die Dialektik von Herr und Knecht jedoch von der Seite des "Knechtes" aus, indem er darauf verzichtet, "Herr" zu sein.
Sao Paulo ist der Ort, wo ein anderer Satz Batailles uneingeschränkt gilt: "Der Mensch wird seinem Kopf entgehen, wie der Gefangene dem Gefängnis." Oder wie es in Berlin heißt: "reality craches my brain". Man muß heute mit zerbrochenem Kopf leben, wie man früher mit zerbrochenem Herzen gelebt hat.
Vielleicht ist die virtuelle Welt der Maschinen der Schirm, den man aufspannt, um sich über diese Niederlage hinwegzutäuschen: Ein Kopf! Ein Geist! Ein Speicher! Vielleicht ist der Schirm aber auch eine Bildfläche, auf der die Wahrheit erscheint: daß nämlich das Imaginäre überall auf der Welt eine Kreuzigung des Realen darstellt.
Gegen das Wuchern der Abstraktion und ihrer Mittel, der Worte, Bilder, Schemata helfen nur die Erfindungen der Imagination. Nur virtuose Fiktionen kommen gegen die Übermacht des Virtuellen auf, keineswegs die Schemata, die Bilder, die Worte. Das schafft einen neue Situation für die Kunst.
Auf der Kehrseite des Herrscherblicks hat ein Augenleiden der besonderen Art begonnen. Das Auge ist Schauplatz unvermeidlicher Passionen, die auf die Allianz der theologisch-religiösen und der technologisch-säkularen Gewalt antworten. Kunst als Netzhautkunst, als groß angelegte Augentäuschung kann nur noch das fortsetzen, was sie unterbrechen sollte.
Kein Standpunkt, Sitzpunkt eines Überblicks ist mehr möglich. Das Auge als Kontrollorgan hat ausgedient. Der Geist als institutionalisierte Störung des Lebens siecht dahin. Das Ganze ist nun für immer - nicht nur das Unwahre (Adorno) - sondern ein Herd der weiteren Zerstückelung und Vernichtung. Um den alten Störer zu stören, müßte die Kunst in den Zwischenräumen und den Lücken der Zeit anfangen können.
Armin Medosch über Sao Paolo Dietmar Kamper über Telepolis - die virtuelle Stadt Rudolf Maresch über Dietmar Kamper