Rechte in Frankreich: Warten auf die Macht

Seite 2: Gegen Mindestlohn, für schnellere Kündigungen durch den Vermieter – und Revanchismus

So stimmten die Rechtsextremen im Hochsommer 2022, in der ersten Sitzungsperiode nach ihrer Wahl in die Nationalversammlung, an mehreren Punkten gemeinsam sowohl mit den Liberalen im Anhang Emmanuel Macrons als auch mit den Konservativen (denen der bürgerlichen Oppositionspartei LR, Les Républicains) ab, um linke Anträge abzuschmettern und wirtschaftsliberale Optionen zu unterstützen.

Beispielsweise lehnten Liberale, Konservative und Rechtsextreme Ende Juli 2022 gemeinsam einen Antrag der Linksfraktionen auf Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC – derzeit monatlich rund 1.350 Euro netto – auf 1.500 Euro ab.

Stattdessen stimmten alle drei dafür, die von Steuern und Sozialabgaben befreite – und darüber nicht hauptsächlich vom Arbeitgeber, sondern durch Steuer- und Abgabenzahlende finanzierte – Lohnersatzprämie, die im Winter 2018/19 unter dem Namen "Macron-Prämie" eingeführt worden war, zu erhöhen.

Diese Sonderzahlung, die keinen Entlohnungscharakter hat und nicht an der Verteilung zwischen Löhnen und Kapitalerträgen rührt, stellte bei ihrer Einführung eine Antwort an die Gelbwesten-Proteste dar. Ihr Höchstbeitrag von ursprünglich 2.000 Euro jährlich wird durch den Parlamentsbeschluss vom Juli 2022 nun verdreifacht. Dem stimmte der RN zu.

Zuletzt votierte die RN-Parlamentsfraktion Anfang April dieses Jahres auch für den Regierungsentwurf für ein Gesetz zum Vermieterschutz. Dieses richtet sich vordergründig gegen Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer, erlaubt aber auch eine drastisch erleichterte Kündigung von säumigen Mietern, etwa auch solchen, die schlicht in finanziellen Schwierigkeiten stecken.

Experten der Vereinten Nationen erklärten sich über dieses Gesetzesvorhaben besorgt. Das Stimmbündnis von bürgerlichen Rechten, Wirtschaftsliberalen und neofaschistischen Rechten war hierbei intakt.

Zwar stimmte auch an die Linksopposition an einzelnen Punkten mit der rechten Konkurrenz ab, etwa (sowohl mit Konservativen als auch mit Rechtsextremen auf den Oppositionsbänken) gegen bestimmte Corona-Schutzbestimmungen im Juli 2022.

Dies erschien durchaus kritikwürdig, wobei die Linksfraktion LFI später – im Dezember 2022 – einen Gesetzentwurf für die Wiedereinstellung von Corona-Impfungen verweigernden Beschäftigten im Gesundheitswesen zurückzog, nachdem der RN ihn kopiert und als eigenen Entwurf eingebracht hatte.

Insgesamt betrachtet, kommt es gleichzeitig zu einem Wettlauf zwischen Links- und Rechtsopposition um eine Profilierung als – tatsächlich oder vermeintlich, und mindestens im Auftreten – schärfste Oppositionskraft, als auch zu Bündnissen zwischen den Eliteparteien wie denen des Macron-Lagers und den neofaschistischen Rechten.

Letztere wurden durch ihr relative Wohlverhalten etwa bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzentwürfen im Sommer 2022 – das war, bevor der RN sich mit verbalradikaler Ablehnung gegen die Rentenreform zu profilieren trachtete – auch dadurch belohnt, dass die etablierten Parteien ihnen zur selben Zeit den Weg in die parlamentarischen Kontrollkommissionen für die Armee sowie die Nachrichtendienste freimachten.

Durch ihre Präsenz in der parlamentarischen Geheimdienstkommission verfügt die extreme Rechte nun erstmals zu einem Zugang zu besonders vertraulichen Informationen.

Zugleich durfte der RN, dem seinem Anteil an den Parlamentssitzen gemäß Vorsitz- und Vizevorsitzposten in den parlamentarischen Freundschaftsgesellschaften mit diversen Ländern dieses Planeten zustehen, wobei die konkrete Besetzung der Zustimmung anderer Fraktionen bedarf, etwa den geschichtspolitisch heiklen Vizevorsitz in der Freundschaftskommission zwischen Frankreich und Algerien übernehmen.

Ihn übernahm ausgerechnet der als Mitglied der kolonialen Siedlerbevölkerung im damals französisch beherrschten Algerien geborene RN-Abgeordnete José Gonzalez.

Was zu heftigen Reaktionen führte – kein Wunder. Denn im Juni 2022 durfte der 79-Jährige als Alterspräsident die erste Sitzung der Nationalversammlung eröffnen. In seiner Antrittsrede äußerte der Mann sich, unter den Augen zahlloser Kameras und vor unzähligen Mikrofonen, dabei offen revanchistisch:

In diesem heiligen Ort der Vertretung des französischen Volkes, des Ausdrucks des nationalen Willens, Sie nebeneinander – in alphabetischer Reihenfolge (Anm.: also nicht nach Fraktionszugehörigkeit geordnet) – vereint zu sehen, jenseits all unserer Differenzen, ist ein Symbol französischer Einheit.

Dieses Symbol der Einheit berührt das Kind eines Frankreich von anderswo, das ich bin, seiner Geburtserde entrissen und durch den Wind der Geschichte im Jahr 1962 auf die Küsten der Provence geworfen. Ich ließ dort einen Teil meines Frankreichs und viele Freunde zurück. Ich bin ein Mann, der seine Seele auf immer verletzt gesehen hat ...

Entschuldigen Sie mich, ich denke an meine Freunde, die ich dort zurückließ. (Ich bin ein Mann, der seine Seele auf immer verletzt gesehen hat durch ein Gefühl der Aufgabe (Anm. : gemeint ist, dass die koloniale Metropole die Siedlungskolonie Algerien aufgegeben habe) und die Perioden der Zerrissenheit.

José Gonzalez

Und hier seine Antworten auf journalistische Nachfragen beim Verlassen der Räumlichkeiten der Nationalversammlung am selben Tag:

Ich denke nicht, dass es Verbrechen der französischen Armee in Algerien gegeben habe. (…) Vielleicht muss man jetzt die Geschichte revidieren, aber ich glaube das nicht. Ehrlich, ich bin nicht dafür da, um zu beurteilen, ob die OAS Verbrechen begangen hat. Ich weiß nicht einmal, was die OAS gewesen ist, oder fast nicht.

José Gonzalez

Die OAS oder "Organisation geheime Armee" war eine rechte Terrororganisation, die gegen Frankreichs Rückzug aus Algerien von 1962 bombte und tötete und insgesamt 2.700 Menschen ermordete. Auf das "fast" in dem Satz von Gonzalez kommt es wohl an.

Es verhält sich also strukturell ähnlich, als überließe man einem deutschen Nazi den Vorsitz in einer Freundschaftskommission zwischen der Bundesrepublik und Israel. Wobei es an der Stelle noch einmal gut ging.

Den Vorsitz in der Arbeitskommission zum Antisemitismus, den der RN – dessen Vorläuferpartei Front National zumindest unter dem langjährigen Vorsitz von Jean-Marie Le Pen, im Amt von 1972 bis 2011, unverhohlen politisch mit Antisemitismus und Holocaust-Relativierung spielte – hatte der RN ebenfalls für sich beantragt.

Ihn überließ die Nationalversammlung den Rechtsextremen jedoch wohlweislich nicht. Vielleicht hat es dafür ja einen Grund gegeben.