Regierungskrise in Österreich

Reinhold Mitterlehner bei seinem Rücktritt. Screenshot: Telepolis

Vizekanzler Mitterlehner zurückgetreten - Grüne wollen gerichtlich durchsetzen, dass Facebook weltweit löscht

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Gestern veröffentlichte der österreichische Wirtschaftsminister, Vizekanzler und Volkspartei-Vorsitzende Reinhold Mitterlehner unterwartet eine "persönlichen Erklärung", mit der er sowohl seine beiden Regierungsämter als auch den Parteivorsitz zum 15. Mai niederlegte. Bezüglich der Gründe für den Rücktritt blieb der Politiker schwammig. Die Formulierung, er sei "kein Platzhalter, der auf Abruf agiert" und wolle "Zeitpunkt und Inhalt aller Schritte selbst bestimmen" deutet aber darauf hin, dass er mit einer Entmachtung durch seinen innerparteilichen Konkurrenten Sebastian Kurz rechnete, der deutlich bessere Umfragewerte erzielt als Mitterlehner und seit langem als Kanzlerkandidat gehandelt wird.

Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern reagierte am Nachmittag in einer ungewöhnlich kurzen Stellungnahme zum Rücktritt Mitterlehners mit dem Angebot einer "Reformpartnerschaft" an Kurz, den er wie einen natürlichen Nachfolger des Vizekanzlers ansprach. Von vorgezogenen Neuwahlen, über die man in Österreich schon seit einem Jahr diskutiert, sprach Kern dabei nicht. Sie kämen Kern möglicherweise etwas zu früh, weil ein Kriterienkatalog für Koalitionspartner, mit dem die SPÖ ein altes Bundeskoalitionsverbot mit der FPÖ ersetzen will, erst im Sommer fertig werden soll. Im Burgenland - also auf Landesebene - koalieren die Sozialdemokraten bereits mit den Freiheitlichen.

"Intrigantenstadel"

Am Montag hatte die SPÖ-Staatssekretärin Muna Duzdar den Koalitionspartner ÖVP als "Intrigantenstadel" gescholten, in dem es zwei gegnerische Fraktionen gebe und in dem Innenminister Wolfgang Sobotka und ein bei der Regierungssitzung Abwesender (mit dem sie offenbar Kurz meinte) einen "Dauerwahlkampf" auf Kosten "konstruktiver Regierungsarbeit" führen würden. ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling konterte diesen Vorwurf mit der Feststellung, in der SPÖ gebe es mindestens zwei, wenn nicht sogar drei unterschiedliche Fraktionen - was nicht ganz unzutreffend scheint, wenn man beispielsweise die migrationspolitischen Positionen von Duzdar und Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil miteinander vergleicht.

Kurz, der mutmaßliche neue ÖVP-Parteivorsitzende, ist hier ganz bei Doskozil, der für Aufnahmezentren außerhalb der EU plädiert, in denen Asylbewerber die Bearbeitung ihrer Anträge abwarten. Dadurch sollen Anreize für gefährliche Überquerungen des Mittelmeers wegfallen. Außerdem fordert der von Kern designierte Vizekanzler, Sozialhilfeleistungen für EU- Ausländer während der ersten fünf Aufenthaltsjahre in Österreich zu streichen und die EU nach dem Subsidiaritätsprinzip zu reformieren. Am Vereinigten Königreich möchte Kurz kein abschreckendes Exempel gegen weitere Austritte statuieren - stattdessen plädiert er für eine Übereinkunft, die für beide Seiten die wirtschaftlichen Vorteile maximiert.

Neuwahlen?

Ob eine Koalition mit Kurz als Vizekanzler und Kern als Kanzler bis zum regulären nächsten Wahltermin im Herbst 2018 hält, ist offen. Einer am 8. Mai veröffentlichten Umfrage des Market-Instituts nach läge bei solche Neuwahlen die FPÖ mit 29 Prozent Stimmenanteil ganz knapp vor der SPÖ, die auf 28 Prozent käme. Die ÖVP liegt mit 21 Prozent zwar deutlich dahinter, hat etwas älteren Umfragen nach aber mit Kurz, den 56 Prozent bevorzugen, den klar beliebteren Kanzleranwärter. Den amtierenden SPÖ-Kanzler Christian Kern halten nur 46 Prozent für den besseren Mann.

Die Grünen liegen in der Market-Umfrage trotz des "Kopftuchsagers" ihres Bundespräsidenten Alexander van der Bellen bei 11 Prozent. Am 8. Mai erregten sie internationales Aufsehen, als sie am Wiener Oberlandesgericht eine einstweilige Verfügung erwirkten, die Facebook zwingen soll, Beiträge nicht nur in einzelnen Ländern zu sperren, sondern nach österreichischem Recht weltweit zu löschen. Und das ist der Entscheidung nach deutlich rigider, als viele Österreicher bislang glaubten: In der einstigen Heimat großer Provokateure von Karl Kraus bis Herrmann Nitsch gilt heute bereits ein "korrupter Trampel" als "Hate Speech".

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