Reise durch das Schwarze Quadrat in den Kosmos

So stellt sich Anton Vidokle das kosmistische Museum vor. Standbild aus dem Film "Immortality and Resurrection for All". Bild: Anton Vidokle

Der russische Kosmismus verspricht Unsterblichkeit. Doch am Ende steht die alte Erfahrung: Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang

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Einem Kritiker, der dem Bild "Das Schwarze Quadrat" von Kasimir Malewitsch nicht sehr gewogen scheint, fielen vor Jahren die Risse und Schrunden auf dem Gemälde auf, dessen bebekannteste Fassung von 1915 in Moskau hängt. Endlich hatte er eine Interpretation: Nachts entfleuchen aus den Ritzen kleine Teufelchen, die Moskau überfallen.1

Ganz anders ging Bernd Scherer, der Leiter des Berliner "Haus der Kulturen der Welt", heran, als er eine Tagung samt kleiner Ausstellung zum "Russischen Kosmismus" eröffnete. Einstmals wurden russische Ikonen mit einem Firnis überstrichen. Der ließ im Lauf der Jahre die Bilder dunkeln, bis sie schwarz waren. Als im 19. Jahrhundert neue Restaurierungstechniken erfunden waren, kamen die alten Motive wieder zum Vorschein. Malewitschs bis heute so provokantes Bild ist die Aufforderung, die ursprünglichen Elemente des Lebens neu zu entdecken. Es ist eine Aufforderung zur Wiederbelebung der Vorfahren.

Wird die Forderung wörtlich verstanden, ist sie synonym mit Unsterblichkeit. Das sind bereits die zentralen Aussagen des russischen Kosmismus, dessen Anhänger Malewitsch war. Nur war er vorsichtiger und legte den Gedanken der Unsterblichkeit in die Kunst. Bevor er künstlerisch eine neue Welt erschuf, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, musste er sich der verpfuschten eklektizistischen Kunstvergangenheit entledigen. Er und die russische Avantgarde standen an einem Nullpunkt. Ihre Malerei war gegenstandslos, und sie war zeitlos ("uchronisch"). In ihrer geometrischen Abstraktion war sie auch ortlos. Entsprechend der neuen physikalischen Theorien vom Anfang des 20. Jahrhunderts zehrten die Farben (die Malewitsch auch beherrschte) und Formen von einer Raum/Zeit-Kompression.

Reise durch das Schwarze Quadrat in den Kosmos (18 Bilder)

Kasimir Malewitsch: Das Schwarze Quadrat. Bild: Magnus Manske / CC-BY-SA-3.0

Der "Suprematismus", den Malewitsch 1913 aus der Taufe gehoben hatte, schuf ein neues Raumempfinden. Der Raum ist nichts mehr, was durch ein Schlüsselloch betrachtet werden kann. Die geometrischen Gemälde und Zeichnungen Malewitschs und generell des Konstruktivismus sind Umsteigestationen von der Malerei in die Architektur. An die abstrakten geometrischen Formen, die nach Abkehr von der Zentralperspektive der Renaissance2 entstanden sind, werden gedachte Achsen gelegt, welche die Flächen in eine dritte Dimension ausziehen. Häuser sind entstanden, deren Kubus vielfach gebrochen, skulptural ist. Seine Zeichnungen nannte Malewitsch "Architekturformeln". Das gleiche "axonometrische" Verfahren hatte in Holland Theo van Doesburg von der Gruppe "De Stijl" angewandt.

Der nächste Schritt sind physische Architekturmodelle. Wieder konfrontiert Malewitsch die Horizontale und die Vertikale. Es sind asymmetrische Konstruktionen, die zu schweben scheinen. Schwerelosigkeit als Befreiung. Wenn die Vertikale dominiert, sind es "suprematistische Hochhäuser" geworden. Die horizontal bestimmten Gebäude erinnern Gisela Heinrich3 an Entwürfe von Mies van der Rohe. Die Parallelen mit dem Bauhaus und dem italienischen Futurismus sind unübersehbar.

Gegenüber den westlichen filigranen Hausentwürfen wirken die russischen ein wenig gebläht. Mit Absicht, denn Malewitsch griff höher hinaus: ins All. Die skulpturalen Gebilde sehen aus wie Raumschiffe und sollen es auch sein. Malewitsch und seinen Schülern wie Ilja Tschaschnik und Gustav Kluzis schwebte vor, sie in eine Umlaufbahn wie Sputniks zu bringen. Die weltalltauglichen Häuser nannte Malewitsch "Planiten". Aus den vorausgegangenen Schritten folgt zu guter Letzt die Agglomeration zu "Aerostädten" im All.

Die Krakelüren (Risse) des "Schwarzen Quadrates" werden näher untersucht. Aus "Immortality and Resurrection for All". Bild: Anton Vidokle

Tschaschnik schrieb: "Die Arbeit an der Räumlichkeit führt uns zum Umbau der Welt, zur Neuen Natur." Die empirischen Grenzen der gegenständlichen Welt gelten nicht mehr. Der Raum expandiert. Er wird Bewegung. Aus den geometrischen Formen werden sphärische Projektionen. Der Bildraum wird mit dem Weltraum identisch. Das mechanische Zeitalter wird vom energetischen abgelöst.

Wie das Medium der Darstellung wechselt, werden die physischen Dimensionen, in denen sich der Mensch bewegt, immer weiter. Am Anfang ist das Bild im Kopf, das der Erfinder oder der Künstler von seinem Objekt hat. Es folgt die Zeichnung, dann das Modell, zunächst als Spielzeugmodell. Das Leben ist ein Spielzeug, meinte der Schriftsteller Andrei Platonow. Eine Maßstabsvergrößerung fehlt noch: die Theater- und Filmarchitektur. In russischen Raumfahrt-Filmen der damaligen Zeit haben die Modellbauten in Teilen den Maßstab 1:1. Um die neue Welt zu entwerfen, ist das Modell genau so wichtig wie die Sache selbst. 1 :1 ist der Maßstab des Sozialistischen Realismus.

Diese Aussage ist weniger heuchlerisch als pragmatisch. Der russischen Revolutionsarchitektur erging es nicht viel anders als der französischen. Es haperte an der realen Umsetzung. Das nimmt jedoch niemand - außer gelegentlich die aus der Revolution hervorgehenden Diktatoren - den Architekten und Künstlern übel. Ihre Entwürfe einer besseren Welt sind sinnlich, aber doch künstlich. Malewitschs Kosmos ist ein künstlerischer, utopischer. Die Erkenntnis des Scheiterns kam schon in den Zwanziger Jahren auf. Aber nicht nicht nur politische Agitationskunst scheitert. Schon Orpheus misslang es, mit seiner Musik den Tod zu überwinden. Mit dem Eingeständnis und der Verarbeitung des Scheiterns ist die Kunst jedoch politischen Wanderpredigern überlegen, die das ewige Heil durch eine gemeinsame Tat hier und jetzt versprechen.

"Jeder Russe, der hat Seelen. Was weiß ich. Hei, hei"

(Aus dem Liedtext "Stroganoff" von Friedrich Hollaender.)

Malewitsch bezieht sich auf Nikolaj Fedorov (1829-1903), der Ende des 19. Jahrhunderts den Kosmismus begründete, aber erst postum Bekanntheit erlangte. Jede Geburt eines Sohnes bedeutet nach Fedorov, dem Vater das Leben zu nehmen. Die Schuld kann nur abgegolten werden, indem alle Ahnen wiedererweckt werden. Durch die neue Gemeinschaft mit den Auferweckten wird der Tod überwunden. Nur die allumfassende Gemeinschaft der Menschen ist imstande, das Universum vernunftgemäß zu vollenden. Das ist ein evolutionärer Prozess. Da durch die Wiederbelebung der Ahnen die Erde übervölkert wäre, sind sie auf Planeten im All zu verbringen.

Der Ort der Wiedererweckung ist das Museum. Im Museum sollen die menschlichen Überreste aufbewahrt und aufbereitet werden. Das Museum ist nach dem Tod Gottes der einzige Ort, an dem eine transhistorische Vereinigung über das Grab hinaus möglich ist. Die Wiederauferstehung ist kein Wunder, sondern eine Sache des in der Museumsbibliothek gespeicherten Wissens und der durch Technologie vermittelten menschlichen Arbeit. Diese Humanisierung des Kosmos ("Theoanthropologie") ist einerseits eine fortwährende Spiritualisierung des menschlichen Bewusstseins, bleibt aber andererseits an die Natur und Materie gebunden. Seele und Leib lösen sich nicht voneinander, wenn die Unsterblichkeit eine körperliche ist. In Illustrationen ist das Museum tatsächlich eine Stätte der Exhumierung von Leichenteilen, die zusammenzusetzen sind.

Kasimir Malewitsch: "Suprematismus", 1916. Bild: Public Domain

Diese diesseitige Eschatologie ist von den Nachfolgern Fedorovs weiterentwickelt worden. Es ist nur folgerichtig, dass die Vereinigung mit den Ahnen ebenfalls körperlich ist, jedoch nicht geschlechtlich, sondern durch Inkarnation. Der Dichter Nikolai Sabolozki fasste es kurz: "Ich bin viele Male gestorben."

Alexander Bogdanow (1873-1928) experimentierte mit Blutaustausch. Er hoffte, sich durch die Infusion mit dem Blut Jüngerer selbst zu verjüngen, starb aber an der Folge eines Versuchs. Da die Materie eine ähnlich ausgedehnte Rolle wie der Kosmos spielt, nahmen einige Vertreter die Atome zu Hilfe, um leiblich-seelische Metamorphosen zu ermöglichen und zu erklären. Alexander Tschischewski veröffentlichte 1930 seine Untersuchung zur Abhängigkeit gesellschaftlicher und natürlicher Katastrophen von der Sonnenaktivität. Solche Bezüge wurden jüngst bis zur Finanzkrise und dem Brexit weiterverfolgt.

Wenn der Kosmismus die Geltung einer revolutionären Vernunftreligion beansprucht, kommt über die Sonnenenergie die Lichtreligion hinzu. Damit bietet sich ein weiterer Zugang zum "Schwarzen Quadrat" und zu Malewitschs Lebensphilosophie an. Die Frage, ob das Dunkel eine Folge des Lichts ist oder ob das Licht aus dem Dunkel entsteht, ist am besten im Weltall zu klären.

Da die Gemeinschaft mit den Ahnen Unsterblichkeit für alle bringt, bedeutet das nach Fedorov auch Gleichheit für alle. Es ist jedoch sehr riskant, wenn er die biblische Apokalypse ausfallen lässt. Die Vereinigung aller Menschen ist zugleich die Vereinigung von Kunst und Leben und aller Wissenschaften gleichsam zu einem Gesamtkunstwerk. Es erweist sich jedoch, dass nicht alle mitkommen wollen oder können. Soziale Spaltungen treten um so stärker zutage. Totalitäre Gewalt wird dann gegen die Verdammten ausgeübt, um sie zum Mitmachen zu zwingen. Oder es wird eine Auslese der fitten Menschen getroffen, die mit der kosmischen Vernunft gesegnet sind. Ein biopolitisches Übermensch-Modell schimmert durch. Wenn das scheitert, könnte die Aqpokalypse als diesseitige Katastrophe ohne Heilserwartung eintreten. Die Menschen rotten sich gegenseitig aus.

Auf der Tagung kam die Nachfrage aus dem Publikum, ob Fedorovs Skizzierung einer musealen Wiedererweckung nicht metaphorisch gemeint sei. Boris Groys, der Hauptredner, verneinte. Die Verwandlungen zwischen Leben und Tod seien wörtlich zu verstehen. Eine Referentin verwies auf eine Ikone von Andrej Rubljow, die die Transfiguration des Heilands darstellt. In der orthodoxen Tradition meint Transfiguration die Verwandlung nicht nur des Geistes, sondern im selben Atemzug des fleischlichen Körpers.

Kosmismus als Bildungskost

Den Schlüssel zur Erklärung seines kosmischen Systems liefert Fedorov selbst. "Das Bewusstsein, dass unsere Geburt den Vätern das Leben kostet, dass wir sie verdrängen, ist das Bewusstsein unserer Schuld." Die Schuld geht in Furcht über und diese in das Gefühl der Pflichtvergessenheit, gar des Verbrecherischen. "Wir", das sind die Söhne, und diese schließen sich zur "Brüderschaft" zusammen, um die Schuld zu sühnen und sich und die Väter zu erretten.

Die Brüderschaft heißt bei Sigmund Freud "Brüderhorde". Die Schuld am Tod des Vaters ist der Kern der Ödipus-Sage. In der antik-christlichen Tradition ist es jedoch ein Einzelner, der die Schuld auf sich nimmt und die anderen entlastet, und das ist an prominenter Stelle Jesus. Bei Fedorov ist dagegen das Kollektiv aller Söhne im Zirkel aus Schuld und Sühne befangen. Der Kern seines Systems ist der Autoritätskonflikt in männlicher Linie, und der wurzelt im russischen Nihilismus. Den Begriff verwendete Iwan Turgenew in seinem Roman "Väter und Söhne" (1862).

Wladimir Tatlin: Flugobjekt "Letatlin, 1930-32. Bild: Tomislav Medak, 1930-32 / CC-BY-2.0

Autoritätskonflikte im Freudschen Sinn sind im Verschwinden begriffen. Ist die psychische und geistige Disposition der Anhänger westlicher New-Age-Zirkel und spiritualistischer Bewegungen trotz aller Kongruenzen mit dem Kosmismus eine andere? Die Hypothese wäre eine Untersuchung wert, dass die Vorbeter jener Bewegungen noch die klassischen Konflikte erfahren haben und ihren Leidensdruck an die Gemeinde weitergeben, für die die Auflösung der Familie bereits weitgehend vollzogen ist. Die Anführer entlasten sich auf Kosten der Gruppe.

Aluhut-Träger würden sich schnell im Kosmismus zurechtfinden, wenn sie auf Sätze stoßen wie: "Der Mensch ist nicht nur ein irdisches, sondern auch ein kosmisches Wesen und über alle Moleküle und Teilchen seines Körpers mit dem Kosmos verbunden: mit den kosmischen Strahlen, Strömen und Feldern."

Der Kosmismus könnte als krude Ideologie abgetan werden, wenn seine Wirkungsgeschichte nicht so mächtig wäre. Seine Faszinationskraft strahlt in eine ganz besondere Richtung. Er behauptet, die Befreiung der Ahnen und die Ausgestaltung des Universums mit technologischen Mitteln zu erreichen. Er gehe wissenschaftlich vor. Damit adressiert er das Bildungsbürgertum und Intellektuelle, bei denen solche Bewegungen üblicherweise in schlechtem Ansehen stehen. Der Kosmismus macht die Mystik salonfähig. So gesehen hatte die Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt die Funktion eines Trojanischen Pferdes.

Eine Erfindung des Kosmismus war jedoch bahnbrechend: die Raumfahrt. Endlich wurde einmal, was im Kopf entstand, nach dem Großen Vaterländischen Krieg zum Erfolg geführt. Es stellte sich jedoch als rein technologischer Triumph heraus. Der gesellschaftliche und politische Niedergang konnte dadurch nicht aufgehalten werden.

Fazit: Wenn Kunst und Leben zu einer Ganzheit verschmolzen werden, ist die Utopie auf die Erde gekommen und das Ende der Geschichte erreicht. Die suprematistischen Künstler machen allein diese Verschmelzung noch einmal zur Kunst. Ihre architektonischen Entwürfe und Modelle bleiben unrealisierbar, bleiben Hoffnung. Aber sie werden zum Auftrag, auf ein besseres Leben in besseren Städten hinzuarbeiten.

Tote ins Leben zurückzuholen und Unsterblichkeit zu erlangen, zementiert hingegen das Ende der Geschichte. Einzelnen Russen gelang es jedoch, daraus Gewinn zu ziehen. Gogols Reisender Pawel Tschitschikow4 kaufte tote Seelen und erweckte sie zum Leben, allerdings nur auf dem Papier und zu dem sehr pragmatischen Zweck, Finanzämter und Banken zu beschummeln. So macht Kosmismus Spaß.

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