Rennfieber am Himmelsberg

Bild: Ralf Bönt

Eine "Tour de France der Amateure", die Haute Route in den Pyrenäen: Ein Radrennen über fünf Tage, 630 Kilometer und fast 16.000 Höhenmeter. Es erfordert einen langen Anlauf, vor allem, wenn man im flachen Berlin lebt.

"Solange" ist ein im französischen beliebter Vorname, der das Feierliche ehrt, und ich mochte ihn schon, bevor sich meine Masseurin auf der diesjährigen Haute Route in den Pyrenäen so vorstellte. Daran denke ich allerdings nur kurz, als sie nach der dritten Etappe meinen Vastus medialis, den inneren Schenkelmuskel in Angriff nimmt.

Wir befinden uns im Hof eines hinreißend gelegenen alten Gestüts in Tarbes, Region Okzitanien und Verwaltungssitz des Départements Hautes-Pyrénées. Rechts und links ist kaum ein Meter Platz zu den anderen Bänken, auf denen verschwitzte Radfahrer und Radfahrerinnen liegen und abwechselnd stöhnen oder einen Scherz machen. Viel verstehe ich nicht. Wir sind im Radrennsport, es wird französisch gesprochen. Die Stimmung ist bestens. Solange ist in meinem Alter, sie hat mir kunstvoll ein Tuch um die Hüften gewickelt und noch einiges zu tun, weil ich statt der üblichen 15 Minuten eine ganze Stunde gebucht habe.

Der innere Schenkelmuskel wölbt sich direkt über dem Knie und meldet Protest an, als ihr Daumen auf ihm kreist und sie den Druck erhöht, aber in den Protest mischt sich mit jeder Umkreisung auch Dankbarkeit. Auch die anderen Muskeln lassen jetzt los. Wie alle auf der Haute Route, weiß Solange genau, was sie tut.

Auf dem Tourmalet

Vor einer Stunde war ich noch auf dem Tourmalet, einem der mythischen Berge der Tour de France. Es war dieser Tag, wegen dem ich hergekommen bin. Für den ich mir etwas vorgenommen hatte, auf den ich mehr als ein halbes Jahr hingearbeitet habe.

Vor einer guten Stunde war ich am Gipfel losgerollt, in die Serpentinen oberhalb von La Mongie, das ist zum Abfahren die langsame Seite. Mein Radcomputer zeigt mir später 75 km/h als Maximum an. Ich bin zufrieden mit meinem Tag, als Solange zum vastus lateralis wechselt, dem äußeren breiten Muskel, der auf ihre langen kräftigen Striche ebenfalls zunächst protestiert. Sie geht zu schnellen, kurzen Querstrichen über, ich darf dösen. Aber es gibt eine Irritation, die ich mir nicht ganz erklären kann. Noch nicht. Sie wird am nächsten Tag zu einer neuen Erfahrung führen: ein Rennen aufzugeben.

Bild: Christophe Fernandez

Ein Radrennen über fünf Tage, 630 Kilometer und fast 16.000 Höhenmeter erfordert einen langen Anlauf, vor allem wenn man im flachen Berlin lebt. Man hat sich schon vor vielen Jahren für diesen Sport entschieden, wenn man sich anmeldet. Seit dem Herbst denkt man sich in die Königsetappe mit dem Tourmalet hinein, 18 Kilometer mit 7,6 Prozent Steigung – im Schnitt.

Abend für Abend hat man den Nachtisch genauso weggelassen, wie vorher schon den Nachschlag, und an den Samstagen fuhr man, egal wie kalt und nass es war, lieber fünzig Kilometer mehr, statt nur der üblichen hundert. Man möchte rund hochfahren können auf den Tourmalet im Juli.

Man schlemmt an Weihnachten nicht, und an Neujahr, neun Uhr, trainiert man. Im Januar fährt man mit Lobsterhandschuhen, mit denen man zwar keinen Riegel öffnen kann, die aber die Finger vor dem Frost schützen und vor dem Nervenkrampf, der sonst beim Aufwärmen auch dem abgebrühtesten Radfahrer Tränen in die Augen treibt. Fachbegriff: Vasospasmus.

Man liebt die kalte Luft im Februar, wenn man stundenlang in der Ebene dicke Gänge drückt. Im März fastet man endlich ernsthaft und zählt Intervalle, intensiviert das Krafttraining und setzt sich Ziele, die ein bisschen höher liegen als sonst. Ohne Verbesserung macht das ja keinen Spaß.

Dann ist man im April schon schnell und legt sich ein schweres Rennen vor die Füße, Wochen vor der Haute Route. Rennkilometer sind nicht ersetzbar, vor allem im Kopf nicht. Man muss in den Rennmodus wechseln. Ich hatte mir den Granfondo Verona ausgesucht.

Radsport ist wesentlich auch das, was dazwischen kommt

Aber Radsport ist immer wesentlich auch das, was dazwischen kommt. Zum Beispiel Covid. Ich hatte es dann einen Monat vor Verona. Dreizehn Tage vor dem Rennen war ich freigetestet. Sofort fuhr ich eine Stunde Rad. Ich kam zurück und erzählte hocherfreut, dass ich keine Leistungseinbußen bemerkt hätte, ging duschen, aß etwas, setzte mich aufs Sofa und fühlte mich plötzlich, als sei ich nicht 30, sondern 300 Kilometer gefahren. Ich weiß sehr genau, wie sich 300 km anfühlen. Ich wartete ein paar Tage, fuhr dann mal vorsichtig eine längere Strecke, sehr moderat. Ergebnis: Muskelkater. Wie eine Erinnerung aus der Kindheit.

Für Verona bekam ich aus Termingründen keine ärztliche Freigabe, ich fuhr trotzdem hin. Die Organisatoren ließen mich hinter dem Feld auf die Strecke, die ich ohne Startnummer abradelte wie einer jener, die ich sonst immer bemitleide, weil sie ihren Sport nicht beherrschen. Die lange Strecke war nicht zu machen, ich war zu langsam. Aber ich blieb ein paar Tage und fuhr Berge hoch: Impulse setzen jetzt! Noch vier Wochen bis zum Tourmalet.

Ein Belastungs-EKG war mehr als in Ordnung. Um zu Kräften zu kommen, musste ich essen, der ganze Plan des Winters war hinüber, als die Waage mindestens drei Kilo zu viel anzeigte. Zum Glück sind die Hügel der Uckermark von Berlin weit genug weg, um schon auf dem Weg dahin reichlich Fett zu verbrennen. Den Rest würde etwas machen müssen, auf das man sich verlassen kann, wie auf sonst kaum etwas: Das Rennfieber. Aber es bleibt selten bei einer Störung.

Um mich herum waren am Ende der Infektionschutzmaßnahmen sehr viele erkältet, auch ich fühlte mich nicht richtig gut. Meine Ärztin hatte mir noch Blut abgenommen und Antibiotika mitgegeben. Ergebnisse würde ich unterwegs bekommen. Radsport ist neben der akribischen Planung und Disziplin eben immer auch mindestens genau so viel Improvisation.

Christophe kennt um Pau herum jedes Schlagloch

Immerhin lief die erste Etappe von Saint-Jean Pied de Port ins baskische Formigal wirklich gut. Ich hatte mich für eine kürzeste Übersetzung von 34 zu 32 entschieden, was knapp sein konnte, aber die Kassette war ganze 200 Gramm leichter als meine 34er. Kurz nach dem Start zeigte sich bei bis zu 16 Prozent, dass die Entscheidung trug. Auf dem stundenlangen Anstieg nach Formigal kommen schließlich 4.000 Höhenmeter für den Tag zusammen, das reichte erstmal.

Manche sind eher froh, als der zweite Tag im Hagel und Starkregen untergeht, die Etappe unterhalb des Aubisque abgebrochen wird. Die Rennleitung hatte am Tag zuvor schon alles vorbereitet, Busse, Regencapes, Tee: alles da. Ich entscheide mich mit Maxime und Christophe, selbst nach Pau zu fahren. Beide kenne ich aus dem letzten Jahr, als wir mit der Haute Route in den Alpen waren und auch den mörderischen Col de Granon fuhren, an dem dieses Jahr Tadej Pogacar sein gelbes Trikot an den Dänen Jonas Vingegaard verlor.

Freundschaften aus der Haute Route bleiben immer, und Christophe kennt um Pau herum jedes Schlagloch, er wuchs hier auf. Am Nachmittag habe ich dann Zeit, die Schaltung zu justieren, die nach dem Transport nicht perfekt lief.

Bild: Christophe Fernandez, Maxime Jacques

Beste Voraussetzungen für den Tourmalet also, denke ich am dritten Tag. Ich bin im Anstieg zum Soulor. Das Wetter stimmt, das Rad ist im Bestzustand, im Wiegetritt stütze ich mich kurz auf den Lenker, um das Gewicht von den Pedalen zu nehmen zwei Gänge hochzuschalten. Die Kette fällt fast geräuschlos auf den gewählten Kranz.

Das Rollen: Wie der Flug eines Adlers

Ich liebe das Zusammenspiel von Körper und Maschine, die Harmonie der Bewegung, eine Acht, die von der linken Hand über das Kreuzbein in die rechte Pedale fließt, von dort auf die linke Pedale und wieder hoch in die rechte Hand, über den Nacken nach links, um über Arm und Lenker erneut abwärts zu stürzen, auf die rechte Pedale. Näher kann der Mensch dem Vierfüßlerlauf nicht kommen.

Diese Effektivität macht die Faszination des Radfahrens aus, die Überwindung von Staksigkeit und Schwere, die uns den Lauf der Katzen und Pferde so wehmütig beobachten läßt. Obendrein das Rollen: wie der Flug eines Adlers.

Allerdings frage ich mich, wieso ich so früh aus dem Sattel gehe. Das ist eigentlich ein Zeichen von Müdigkeit. Ich setze mich, werde von jemandem überholt. Für den Soulor sieht mein Plan vor, bis 200 Watt zu treten, Werte darüber sind für den Tourmalet vorgesehen, ich hoffe auf sehr lange Passagen mit 250.

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