Rennfieber am Himmelsberg

Seite 2: Euphorie: Einer der größten Feinde des Radsportlers

Was ich nicht weiß und zur Aufgabe am nächsten Tag beitragen wird: In dem biblischen Regenguss am Vortag war Wasser in das Batteriefach meines Leistungsmessers am linken Tretarm gelangt. Als ich sitze, zeigt mein Gerät 130 Watt an. Ich fahre dafür recht schnell bei Steigungen von 6 und 7 Prozent, aber die 130 Watt fühlen sich an wie fast 200.

Ich drücke etwas mehr und schimpfe mit mir, weil ich Reifen, Bremsbeläge und Kette aus Prinzip erneuert und natürlich Ersatzbatterien dabei habe. Aber wieso warte ich, bis die Batterie leer ist?

Andererseits schaltet das Gerät dann einfach ab. Nach dem Soulor zeigt es mal 40 Watt an, dann 4, dann gar nichts mehr, dann wieder Werte, die viel zu niedrig sind. Das ist also die Störung des Tages. Ich fahre ohne Leistungskontrolle, muss nach Gefühl dosieren. Und ich habe am Soulor schon zu viel investiert. Schlecht.

Doch als ich mit Christian aus Belgien nach einer schnellen Fahrt im Tal in Soulom an den sachte ansteigenden, lang Bergrücken gelange, überspült mich die Freude. Ich liebe den Tourmalet, er war der erste große Berg, den ich vor Jahren nach einer langwierigen Krankheit probierte. Man fährt noch eine Weile gemäßigt im engen Tal, teilweise unter Dächern, die vor Steinschlag schützen, das fühlt sich noch nicht langsam an.

Was mir nicht passiert: Dass ich mich von der Wucht der Höhe beeindrucken lasse, wenn nach einer Kurve hinter Luz-Saint-Sauveur der Gipfel zu sehen ist. Oder dass ich mal fünfhundert Meter viel zu schnell fahre. Dass ich zu wenig Wasser habe oder kein Zuckergel. Ich habe einen noch nicht ganz fertigen Roman über meinen Himmelsberg, mich und die Welt in der Schublade liegen, er wartet auf mich, und als ich in die Weite des Tales komme, ziehe ich die Handschuhe aus.

In der Hitze wird jeder Quadratmillimeter Haut zur Kühlung gebraucht. Ich weiß, dass Euphorie einer der größten Feinde des Radsportlers ist, dass nur das Maß zählt, die Einteilung der Reserven, aber ich will jetzt diesen Aufstieg genießen und alles zurückgeben, was ich an guten Erinnerungen mitgebracht habe. Dass ich im Feld vorankomme, gibt mir Recht.

Aber Vorsicht, vor dem oberen Drittel kann man nicht genug Respekt haben. Auf mehreren zum Gipfel hinlaufenden Geraden kommt ein holländisch anmutender Gegenwind auf, bei 10 Prozent Steigung. Wir tun uns zu viert zusammen. Jeder gibt was er hat, für 8 km/h.

Später sehe ich, dass ich auf den letzten Segmenten unter dem Gipfel fast doppelt so schnell fahre wie 2014, als die Haute Route hier eines ihrer berühmten Einzelzeitfahren abhielt. Ich bin oben. Nächstes Jahr werde ich sechzig. Ich halte an.

Die Abfahrt ist eh neutralisiert. Ich treffe Maxime, wir buffen die Fäuste, Christophe kommt gleich. Ich kriege einen Hustenanfall. Esse und trinke und stürze mich in die Tiefe, wie meistens folgt mir bald niemand mehr, und zwar auf den 60 km bis Tarbes nicht. Rollen können die Kletterer nicht. Solange hat Arme und Beine ausgestrichen, Zehen und Finger ausgezogen und hält meinen Kopf seit Minuten in der Schwerelosigkeit. Mehr ist nicht zu wünschen.

Im Nachhinein ist schwer zu sagen, warum ich auf der 4. Etappe ausgestiegen bin. Meine Ärztin hatte das Laborergebnis geschickt, ich solle die Antibiotika nehmen. Ich hatte die Batterie des Leistungsmessers gewechselt und den Wasserschaden entdeckt. Ich hatte Kopfschmerzen. Hatte mit einer Gruppe begonnen, die etwas zu schnell fuhr, aber eigentlich nicht für mich. Ich hatte noch nie einen Besenwagen bestiegen.

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