Request for Politics

Die Heinrich Böll Stiftung will der Fraktion Bündnis90/Die Grünen zu neuer Farbe in der Netzpolitik verhelfen und ein "Netzwerk Neue Medien" gründen

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Nachdem die Bündnisgrünen im Bundestag längere Zeit nicht einmal einen medienpolitischen Ansprechpartner hatten und seit ihrer Regierungsbeteiligung alte Traditionen wie etwa die Betonung der informationellen Selbstbestimmung nicht mehr pflegten, will der "Think Tank" der Partei, die Heinrich Böll Stiftung, nun einen neuen Versuch starten, in der Netzpolitik mit grünen Ideen Akzente zu setzen und Farbe zu bekennen. Auf der noch bis Samstag Abend dauernden Berliner Tagung "Die Informationsgesellschaft gestalten", geht es über den Dächern von Berlin in der Galerie der Stiftung in den Hackeschen Höfen um den Entwurf eines "neuen Leitbilds" für die Welt des 21. Jahrhunderts und um die Suche nach Strategien zur "Vernetzung für die Welt von Morgen." Hehre Ziele, mit denen zumindest die Podiums-"Diskussion" am ersten Abend der Veranstaltung noch nicht ganz mithalten konnte.

Manuel Kiper, ehemaliger forschungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion und seit der Wende Technologieberater, blickte vor allem zurück auf die ersten Jahre der rot-grünen Politik rund um die Informationsgesellschaft. Ein schlechtes Zeugnis stellte er der Regierung vor allem im Bereich des Schutzes der Privatsphäre der Bürger aus: "Der Staat hat auch unter Otto Schily nicht aufgegeben, sich als Big Brother zu gerieren", empörte sich Kiper. So werde mit rund 12.000 offiziell überwachten Telefonanschlüssen in Deutschland nach wie vor zehnmal soviel abgehört wie in den USA. Der Trend zur Überwachungsgesellschaft sei nicht gestoppt worden.

Außerdem seien in Deutschland bereits 200.000 Videokameras plus zugehöriger Bilderkennungssysteme installiert sowie der Straftatenkatalog für DNA-Analysen wesentlich erweitert worden. Nach wie vor sei auch die versprochene Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes kaum vorangekommen, da die "Bundestagsabgeordneten durch die Bank kein großes Interesse" an diesem Thema hätten.

Das neue-alte Feinbild: Der Große Bruder uns seine Kleinen Geschwister

Auch das gesellschaftliche Klima habe sich in Fragen der Privatsphäre angesichts der vielen kleinen Schwestern des Großen Bruders in der Privatwirtschaft, die das Anlegung von Persönlichkeitsprofilen aufgrund von Marketingbestrebungen zur Selbstverständlichkeit gemacht hätten, sowie aufgrund der nach außen gewandten Ich-Gesellschaft gewandelt. Es sei deswegen "schwierig, eine Bewegung gegen die allgemeine Überwachung anzustoßen". Trotzdem müsste es Bestandteil der grünen Politik bleiben, "ein Bewusstsein für das permanente Anlegen von Profilen" zu schaffen und den Bürgern Mittel zur Gegenwehr an die Hand zu geben.

Olga Drossou von der Heinrich Böll Stiftung monierte in einem Thesenpapier, dass in der grünen Grundsatzdebatte immer wieder die Frage diskutiert werde, ob die Politik angesichts der Eigendynamik der Neuen Ökonomie überhaupt noch Gestaltungsmöglichkeiten habe. Das höre sich schon so an, als ob die Politiker nur noch "absichtlich oder hilflos dem Durchmarsch der Internettechnologien" zuschauen könnten. Auch die Charakteristika des Internet seien aber von den Menschen bestimmt worden, die es "programmiert" hätten. Drossou, die ihren Lessig (Wer regiert den Cyberspace?) eifrig gelesen hat, wies deshalb darauf hin, dass die "Architekturen" des Cyberspace auch zur "totalitären Kontrolle" der "NutzerInnen" verwendet werden können.

Ein aktuelles Beispiel für die trotz aller egalitären Netzversprechen sich am Werk befindlichen alten Kräfte führte Kiper gleich ins Feld: So hätten die chinesische Regierung kürzlich Fingerabdruck-Scanner bei amerikanischen Firmen bestellt, die vor allem in öffentlichen Internet-Cafés die Umgehung der im Reich der Mitte herrschenden Zensur von Informationsangeboten verhindern sollen. Dieses Verfahren sei gewählt worden, so Kiper, um den Surfern nachzuweisen, "dass von bestimmten Terminals bestimmte Informationen abgerufen wurden."

Der Traum von der "freien, weltumspannenden Kommunikation"

Soweit dürfe es in westlichen Demokratien nie kommen, fordert Drossou. Eine der wichtigsten Vorgaben der grünen Politik müsste es angesichts des Stellenwerts, den die virtuelle Kommunikation im Alltagsleben erhalte, sein, Mittel und Wege zu finden, mit denen sich "die besonderen Qualitäten des Netzes" nutzen ließen. Dazu zählt Drossou vor allem "eine freie, weltumspannende Kommunikation, die jedem Menschen die Möglichkeit gibt, sich umfassen zu informieren, sich neues Wissen anzueignen sowie das eigene Leben selbstbestimmt zu führen, ohne andere einzuschränken."

Konkret erreicht werden soll dieses Ziel durch die Förderung der "E-Demokratie", die eine neue politische Kultur der Diskussion und Partizipation hervorbringen könne, durch die Kontrolle von staatlichen wie privaten Überwachungsbestrebungen sowie durch die Förderung von Open Source Software. Die Herstellung von Programmen mit offenem Quellcode sieht Drossou als Metapher für die Transparenz von Entscheidungen, die in die Applikationen gleichsam einprogrammiert sind. Diese Durchsichtigkeit sei wichtig, "weil sie den NutzerInnen die individuelle Freiheit gibt, sich gegebenenfalls unliebsamer Kontrolle zu widersetzen" und die frei verfügbaren Programme den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

Nicht zu vergessen ist für die Mitarbeiterin der Heinrich Böll Stiftung auch die Förderung von Medienkompetenz durch die frühe Heranführung der Lernenden an die Neuen Medien. Dabei müsse man auch die Frage stellen, ob genug getan sei, wenn alle Schulen ans Netz gingen, die Spielregeln zur Internetkommunikation aber von Sponsoren wie T-Online oder AOL in die Zugangssoftware zum Netz eincodiert seien.

RFP statt RFC?

In Kreisen des auf der Tagung zahlreich vertretenen Chaos Computer Clubs wurde zudem die Einführung eines "Requests for Politics" (RFP) analog zur Beschlussfassung in technischen Internetfragen mit Hilfe der Requests for Comments (RFCs) diskutiert, um die Forderungen zur Einführung von mehr Transparenz im Politikalltag zu konkretisieren. Demnach würde beispielsweise ein Bürger, der mit der aktuellen Drogenpolitik der Regierung nicht einverstanden ist, einfach über einen RFP eine Debatte im Netz und eventuell auch in den "alten" Medien starten. Der Vorschlag ist aber auch im Hackerumfeld selbst umstritten, da dabei angesichts der Computerunlust zahlreicher Politiker, die sich in der Regel E-Mail höchstens von der Sekretärin ausdrucken lassen, wohl doch wieder nur eine informierte Netzelite von den RFPs angesprochen fühlen würde.