Resilienz – ein Zauberwort gegen psychischen Krankenstand?
Krankenkassen schlagen Alarm: Im multiplen Krisenjahr 2022 haben die Fehltage wegen psychischer Probleme zugenommen. Nun wird Resilienztraining angeboten. Worum geht es dabei?
Zwei Krankenkassen haben innerhalb eines Monats Alarm geschlagen: Die Fehltage von Berufstätigen aufgrund psychischer Probleme haben zugenommen – nicht nur im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Krise, sondern auch im Vergleich zum ersten Corona-Jahr 2020.
Aus dem aktuellen Psychreport der DAK-Gesundheit geht hervor, dass 2022 ein neuer Höchststand erreicht wurde. In allen Altersgruppen seien Depressionen der wichtigste Krankschreibungsgrund gewesen – auf 100 Versicherte kamen 118 Fehltage aus diesem Grund. Belastungs- und Anpassungsstörungen lagen mit 77 Tagen pro 100 Personen auf Platz zwei.
Hier gab es mit 12,4 Prozent den stärksten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Auf Angststörungen entfielen 23 Fehltage. Besonders häufig sind Beschäftigte aus den Gesundheitsberufen betroffen – Altenpflegekräfte beispielsweise mit 480 Fehltagen je 100 Versicherte.
"Multiples Krisenjahr" hinterlässt Spuren
Die Krankenkasse Pronova BKK hat dazu vergangene Woche die Ergebnisse einer Befragung von Psychiaterinnen und Psychotherapeuten im Januar dieses Jahres für die Studie "Psychische Gesundheit in der Krise" veröffentlicht. Im "multiplen Krisenjahr 2022" haben demnach die Terminanfragen in Kliniken und Praxen nochmals um 22 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. 80 Prozent der Befragten verzeichneten mehr Anfragen als vor der Pandemie, im Vorjahr waren es 58 Prozent und im ersten Corona-Jahr 35 Prozent.
Die häufigste Diagnose im Jahr 2022 lautete "Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit". Neue Patientinnen und Patienten suchten vor allem aufgrund von Traurigkeit (93 Prozent) und Müdigkeit (92 Prozent) psychologische Hilfe. Schlafstörungen sind mit 73 Prozent im vergangenen Jahr besonders häufig festgestellt worden, ein Anstieg um 18 Prozentpunkte gegenüber 2021, davor waren sie bereits um 14 Prozentpunkte angestiegen.
"Die Menschen kommen mit höherem Leidensdruck als in den Vorjahren zu uns", sagte Dr. med. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie der Pronova BKK. Als Ursache sieht sie, dass eine Krise in die nächste überging: Zwischen dem Höhepunkt der Corona-Krise und dem Beginn des Ukraine-Krieges, der zu weiteren Existenzängsten führte, war kaum Zeit, um Kraft zu schöpfen – beziehungsweise "Resilienz aufzubauen".
Politik und Medizin hatten zunächst darauf gehofft, dass die Beschwerden mit jeder weiteren milder verlaufenden Corona-Welle weniger werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Andrang nimmt weiter zu, psychische Probleme verstärken sich auch 2022 erneut. Die Menschen haben kaum eine Chance gehabt, nach einer Krise durchzuatmen und Resilienz aufzubauen.
Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Das Stichwort "Resilienz" brachten in diesem Zusammenhang beide Krankenkassen ins Spiel: Die DAK-Gesundheit bietet Unternehmen sogar eine "Resilienzberatung" an.
Resilienz wird von Fachleuten als "Immunsystem der Psyche" bezeichnet und meint unter anderem die Fähigkeit, trotz Stress handlungsfähig und gesund zu bleiben. Das geht nur mit den passenden Rahmenbedingungen in der Organisation.
DAK-Gesundheit
Doch bei diesem Stichwort ist Vorsicht geboten – vor allem, wenn es von Personen mit Macht ein Einfluss kommt, die Individuen "krisenfest" machen wollen, statt all ihre Möglichkeiten zur Vermeidung von Krisen und Katastrophen zu nutzen. Davor warnte der Psychologe Thomas Gebauer bereits 2016 im evangelischen Magazin chrismon:
Tatsächlich erscheint es nur vernünftig, Vorkehrungen zu treffen, um Störungen von außen überstehen zu können. Nichts spricht dagegen, die Widerstandkraft von Menschen zu stärken und ihnen zu helfen, sich vor Katastrophen besser zu schützen. Und es ist auch wichtig, zu verstehen, warum manche Menschen belastende Erfahrungen besser ertragen können als andere.
Absurd aber wird es, wenn das Bemühen um Resilienz zur Rechtfertigung dafür herhalten muss, nichts mehr gegen die Ursachen von Krisen zu tun. Genau das aber ist zunehmend der Fall.
Thomas Gebauer
Statt um die aktive Gestaltung menschenwürdiger Lebensumstände gehe es nur um die Frage, "wie sich Menschen und Systeme gegen Störungen schützen können, um die Anpassung an einen offenbar unaufhaltsam, weil angeblich alternativlos voranschreitenden Zerstörungsprozess", schrieb Gebauer. Und seither gingen wieder fast sieben Jahre verloren, um diesen Zerstörungsprozess aufzuhalten.
An der Grenze zum Gaslighting
Hinzu kommt die mögliche Schuldzuweisung: Resilienz ist grundsätzlich erlernbar – und wer das nicht schafft, hat sich wohl bisher nicht genug angestrengt. Allerdings sagen Expertinnen, dass der Grundstein dafür idealerweise in der Kindheit gelegt wird.
Wer dafür nicht die Unterstützung von Eltern, verständnisvollen Lehrern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen bekommt, ist demnach später klar im Nachteil. Laut der Erziehungswissenschaftlerin Ulrike Graf ist es wichtig, dass Kinder schon im jüngsten Alter erleben, dass die Welt verlässlich sei: "So entwickeln Kinder von Anfang an Zuversicht und Vertrauen."
Insofern ist kaum zu erwarten, dass Erwachsene, denen das vergönnt war, wie auf Knopfdruck Resilienz erlernen – zumal, wenn es realen Grund zur Sorge gibt und die Weltlage nicht wirklich verlässlich ist. Zu behaupten, es gebe momentan keine reale Gefahr für unsere Lebensgrundlagen, grenzt heute schon fast an Gaslighting – eine Form der psychischen Manipulation durch Leugnung von Problemen und Gefahren, die sich die Betroffenen angeblich nur einbilden.
Der Begriff entstand durch das Theaterstück "Gas Light", in dem ein skrupelloser Mann versucht, seine Ehefrau in den Wahnsinn zu treiben, indem er beispielsweise die Gaslichter in der Wohnung herunter dimmt und so tut, als würde nur sie die Verdunkelung bemerken.
Ein Beispiel für Gaslighting ist auf politischer Ebene die Verharmlosung der gut dokumentierten Klimakrise: Konservative Autofreaks und Lobbyisten erklären die Umweltbewegung für ängstlich, verrückt und paranoid, obwohl sie sich auf einen breiten wissenschaftlichen Konsens, auf das Bundesverfassungsgericht sowie auf den UN-Generalsekretär berufen kann.
Wenn Entscheidungsträger vor diesem Hintergrund einseitig auf Resilienz setzen und die Bevölkerung fit für die Katastrophe machen wollen, statt alles zu tun, um sie einzudämmen, dann wird das schöne Modewort zum Zynismus.
Realistischerweise werden wir beides brauchen: Resilienz für den heute schon unvermeidbaren Teil – und zivilgesellschaftlichen Druck, um das schlimmste zu verhindern.