"Réveillez vous!"
Die "Europäische Zusammenkunft der digitalen Kontra-Kulturen" und die französischen Big Brother Awards in Paris
Ein bandagierter Kopf mit Skibrille, in den ein Fleischermesser eingetrieben wurde - die "zeligConf", die "Europäische Zusammenkunft der digitalen Kontra-Kulturen" ("Rencontre Européenne Des Contre-Cultures Digitales"), gab sich am letzten Wochenende in Paris schon in der Bildauswahl den Touch eines 80er Jahre Spontiismus, den sie mit ihrem Programm mühelos einholen konnte. Die Kritik eines Teilnehmers im französischen Hackerforum Madchat kam leider zu spät: "Wacht auf, seht euch die Welt an, in der ihr lebt und agiert! Es ist nicht damit getan, eine Website zu machen und ein Posting auf Madchat zu lancieren!"
Nur wenige Tage nach der ebenfalls in Paris veranstalteten ISEA und den Protestaktionen beim EU-Gipfel in Nizza versuchte man sich im "Centre International de Culture Populaire", einem soziokulturellen Zentrum in der rue Voltaire, an einer Symbiose von Digitalismus und Gegenbewegung, geriet aber bald, und trotz versammelter Kompetenz, in die Gefilde von Dilettantismus und rastendem Stillstand. Auch das anachronistisch wirkende Jello Biafra-Zitat "Don't hate the media ... become the media!", das man sich als Kampfspruch auf die Sweatshirts gedruckt hatte, half, der dreitägigen Veranstaltung den Anstrich eines autonomem Uniseminars zu geben: keine Sprecherlisten, vage umrissene Themen und eine miserable Ankündigungspolitik auf der Website legten die schnell zu bestätigendeVermutung nahe, dass es sich bei dieser Konferenz keineswegs um eine Netzaktivismus-geübte Veranstaltung à la Next Five Minutes handelte, sondern um ein lose organisierte temporäre Zone zum Ideenaustausch eines erst zu sich findenden (vor allem französischen) "alternativen" Netzwerks aus politischen Aktivisten, Hacktivisten, Journalisten und Open Sourceianern.
Dies wäre nicht weiter verwerflich, aber leider gerieten die im Free-speech-Stil verfassten und englisch-französisch moderierten Panels und Workshops zu Themen wie Kontrolle im Netz, Kryptografie, Geistiges Eigentum oder Aktivismus schnell an die Grenzen der Verhandelbarkeit. Banale Thesen wie "Wir müssen uns Vernetzen!", "Im Gegensatz zu den anderen Medien ist das Internet horizontal, das müssen wir nutzen!" oder die Forderung nach einer Art "Presseagentur für unabhängige Medien", die von manchen Sprechern unter Verweis auf bereits bestehende Knoten wie Indymedia in die Gegenwart zurückgeholt wurden, blieben etwa im "Aktivismus"-Panel die griffigsten Forderungen. Der Nachgeschmack einer Unkoordinierbarkeit der Positionen und eines verspäteten Pragmatismus schwebte über der gesamten Veranstaltung, die zudem in Räumlichkeiten mit dem Charme eines heruntergekommenen Jugendherberg-Speisesaales stattfand. Unnötig bereitete die Französischlastigkeit dieser europäisch gedachten Konferenz Verständnisschwierigkeiten und Verwirrungen unter den internationalen Teilnehmern (Ein französischer Teilnehmer: "Ich habe das jetzt auf französisch gedacht, also kann ich es nicht mehr auf englisch sagen...").
Big Brother Awards Frankreich
Unter Anwesenheit von Simon Davies, dem Leiter der britischen Organisation Privacy International, die die Idee der Big Brother Awards ins Leben gerufen hat, wurden dann am zweiten Abend der Konferenz die französischen Big Brother-Nominierungen gekürt. Als Preisträger gingen hervor: das französische Innenministerium (Grund: illegal geführte Verbrechens-Karteien), Sonacotra (eine Organisation, die in ihren Häusern vorwiegend Immigranten beherbergt und diesbezügliche Informationen an die Polizei weitergibt), die Stadt Vaulx-en-Velin (Grund: örtliche Videoüberwachung nach Plänen der Front National ), die Firma Logiciel Vsis/Inria, die intelligente Überwachungssysteme entwickelt, sowie die Firma Sagem Morpho (Grund: Entwicklung biometrischer Erfassungssysteme). Einen "Prix Voltaire de Vigilance" erhielt das Kollektiv "Souriez vous êtes filmés" für seine gegen Kameraüberwachung gerichteten Aktionen im öffentlichen Raum.
Die anschließende "Orwell-Party" versprühte nichts vom dem Glamour etwa der Wiener Awards, bei welchen noch Detroiter DJs auflegten und Robopets brutal in den Donaukanal gejagt wurden: In der rue Voltaire coverte lediglich eine bärtige Bluesband samt Bongospieler David Bowies "China Girl" und drei angegraute AktivistInnen tanzten im Jugendhaus-Style, als sei es tatsächlich 1984. Später durfte ein DJ drei housige Nummer-1-Hits auflegen, bis der Veranstalter um halb zwölf den Volumeregler mit Hinweis auf die Nachbarn auf Null drehte. Wenn so die europäische, insbesondere die digitale Gegenkultur aussieht, steht uns das Schlimmste noch bevor...
...und wer Glück hatte, wußte von der labomatic-Party am gleichen Abend und verschwand ganz schnell...