Revolution, Diktatur und Verschwörung - die spirituelle Szene auf politischen (Ab-)Wegen

Seite 3: Über die psychologischen Grundelemente

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Reich als Psychologe betrachtet die gesellschaftliche Situation aus einer tiefenpsychologischen Sicht. Ihm ist klar: "Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten, sondern mit gefühlsmäßigen Wertungen operiert." (119) Das dürfte eines der Hauptprobleme auch in der heutigen Diskussion sein, dass es eben gerade nicht um Argumente, sondern um gefühlsmäßige Wertungen geht. Argumente werden viele ausgetauscht und beide Lager, die Befürworter der Corona-Maßnahmen wie ihre Gegner, sprechen von den "wahrhaftigen Zahlen".26 Die Positionen werden jedoch dadurch in keiner Weise beeinflusst. Es sind eher emotionale Schlagabtausche und Zitat- und Link-Bombing zu beobachten.

"Es müssen die energetischen Funktionen aufgesucht werden, die, selbst durch Erziehung und gesamte soziale und gesellschaftliche Atmosphäre bedingt, die menschlichen Strukturen derart umbilden, dass in ihnen Neigungen derart reaktionären Charakters sich bilden können, dass sie sich vor Freiheitseifer heiser schreiend, die Fesseln nicht merken, die ihnen angelegt werden […]" - so Wilhelm Reichs Einschätzung der Gründe, warum der Großteil der Arbeiterschaft und der Kleinbürger zu den Nationalsozialisten übergelaufen ist. Dem, worauf er mit den "energetischen Funktionen" hinauswill, ist der größte Teil seines Buches gewidmet. Für ihn ist es die sexuelle Energie, die im Patriarchat und im Kapitalismus unterdrückt wird. Wichtig für unsere Erörterung hier ist, dass die Beweggründe der Menschen eben nicht rationale Argumente, sondern emotionale Stimmungen sind.27

Hitler sah sehr klar, dass die Masse nicht auf Argumente, sondern auf Gefühle anspricht. Reich schreibt: "Hitler betont an vielen Stellen, dass man der Masse nicht mit Argumenten, Beweisen und Bildung, sondern nur mit Gefühlen und Glauben kommen dürfe." Viele Menschen aus der aktuellen Widerstandsbewegung fühlen durchaus revolutionär. Wilhelm Reich beschreibt die gleiche Situation für die damalige Zeit um 1933. Viele Arbeiter und Kleinbürger waren von der Sozialdemokratie enttäuscht. Die Nationalsozialisten arbeiteten durchaus mit sozialistischen Ideen.

Interessanterweise sagt Anselm Lenz, der Initiator der Hygiene-Demos in Berlin, in einem Interview mit Jens Lehrich von Rubikon, dass er mehr der Farbe Rot zugeneigt sei. Vielleicht ist das nur ein Zufall, aber auch Hitler und die Nationalsozialisten hatten anfangs derartige Affinitäten. Reich als Zeitzeuge bemerkt hierzu: "Unter den symbolischen Mitteln der Propaganda fällt zunächst das Fahnensymbol auf. 'Wir sind das Heer vom Hakenkreuz / hebt hoch die roten Fahnen, / der deutschen Arbeit wollen wir / den Weg zur Freiheit bahnen.'" (148) Die Nazis verherrlichen in diesem Lied die rote Fahne. Schließlich beinhaltete ihre Ideologie auch sozialistische Ideen.

Ein weiteres übereinstimmendes Narrativ besteht in der Idee, dass die herrschende Klasse im Niedergang begriffen ist und nun von den Arbeitern bzw. dem Volk abgelöst wird. So schreibt Hitler in "Mein Kampf": "Das politische Bürgertum ist eben im Begriff von der Bühne der historischen Gestaltung abzutreten. An seine Stelle rückt der bis heute unterdrückte Stand des schaffenden Volkes der Faust und der Stirne, des Arbeitertums, um seine geschichtliche Mission zu erfüllen." (zitiert nach Reich, 149)

Ähnliche Ansichten hören wir heute von den Systemkritikern wie Ken Jebsen oder Anselm Lenz, der die Meinung vertritt, der Lockdown diene nur dazu, den ohnehin stattfindenden Zusammenbruch des Finanzsystems zu verschleiern28. Zur Flagge schreibt Hitler: "Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken unserer Bewegung, im Weiß den nationalistischen […]" (zitiert nach Reich, 148)

Die schwarz-weiß-rote Flagge, gern auch mit Reichsadler, sieht man heute wieder auf den Hygiene-Demos. Eine Vertreterin der politischen Partei "Die Violetten" die ich am 23.05.2020 in Berlin am Rande der Kundgebung der Patrioten für Deutschland (Reichsbürger) am Reichstag in Berlin traf, hatte damit keinerlei Berührungsängste. Dies resultierte allerdings mehr aus ihrer Unwissenheit, denn meine erschrockene Frage, ob sie wisse, welche Ansichten die Reichsbürger vertreten, beantwortete sie mit einem erschrocken fragenden Blick. Wenn man nicht weiß, was die Fahne bedeutet, denkt man sich natürlich nichts dabei. Dann ist es einfach schön bunt hier.

Reichsbürger auf der Hygiene-Demo Mai 2020 in Berlin. Bilder: Ronald Engert